«Wir werden uns auf jeden Fall bemühen, diese Therapie weiterzuverbreiten»

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Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) hat entschieden, dass die autologe Stammzelltransplantation (aHSCT) im Rahmen einer Registerstudie vorerst bis am 30. Juni 2024 angeboten werden kann und von den Krankenkassen vergütet werden muss. Eine solche Studie wird zurzeit einzig am Universitätsspital Zürich (USZ) durchgeführt. Der verantwortliche Neurologe Prof. Roland Martin, der auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der MS-Gesellschaft ist, gibt im Interview Auskunft über Chancen, Risiken und Zukunftsszenarien.

Sie führen eine Registerstudie zur autologen Stammzelltransplantation durch – was bedeutet das?

Prof. Roland Martin: Die aHSCT kann nach dem Entscheid des EDI am Universitätsspital Zürich nun durchgeführt werden und zwar von den Kliniken für Neurologie und Hämatologie gemeinsam. Es sind an beiden Kliniken eine Reihe von Experten an der Behandlung beteiligt. Ein Register einzurichten und die behandelten Patienten in diesem zu erfassen und nach der Behandlung nachzuverfolgen, ist eine Auflage des EDI und des Bundesamts für Gesundheit (BAG). MS-Betroffene, die eine Stammzelltherapie erhalten, müssen in dieses Register eingeschlossen werden.

Wie viele Betroffene in der Schweiz kommen nach den aktuellen Kriterien für die Studienteilnahme in Frage?

RM: Die Anzahl MS-Betroffener, die in Frage kommt, können wir jetzt noch nicht genau abschätzen. Wir nehmen an, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur ein kleiner Prozentsatz der MS-Betroffenen in Frage kommt und die Kriterien für die Behandlung mit aHSCT erfüllt. Am USZ können ca. 30 Patienten  pro Jahr behandelt werden, bei Ausdehnung der Kapazitäten auch mehr.

Warum sind die Kriterien so eng gefasst?

RM: Die gegenwärtigen Kriterien basieren auf den Erfahrungen mit der aHSCT bei MS während der letzten 20 Jahre an einer Reihe von Zentren in diversen Ländern. Sie versuchen, die Patientinnen und Patienten zu definieren, die bei überschaubarem Risiko die höchste Wahrscheinlichkeit haben, von der Behandlung langfristig zu profitieren. Es ist denkbar, dass die Kriterien in den nächsten Jahren etwas weiter gefasst werden. Voraussetzung wird aber sein, dass die Daten zu Wirksamkeit und Verträglichkeit sich weiter bestätigen und eventuell auch schonendere Verfahren der aHSCT entwickelt werden. Der weitere Einsatz der aHSCT wird sich auch nach der Entwicklung anderer neuer Behandlungsverfahren richten; insbesondere wenn in der Zukunft noch wirksamere und nebenwirkungsarme Medikamente oder Behandlungen zur Verfügung stehen sollten, kann der Einsatz der aHSCT auch wieder zurückgehen.

Wem würden Sie eine Stammzelltherapie empfehlen?

RM: Idealerweise erfüllen Betroffene die folgenden Kriterien:

  • Aggressive/hoch-aktive schubförmige MS; Nicht-Ansprechen auf mindestens eine hoch-wirksame zugelassene Therapie
  • Jünger als 50 Jahre
  • Nachweis der Krankheitsaktivität (Schübe, Behinderungszunahme, neue MRI Läsionen) in den letzten 2 Jahren, besonders im letzten Jahr
  • Krankheitsdauer nicht deutlich länger als 10 Jahre
  • Keine medizinischen Kontraindikationen
  • Behinderungsgrad von EDSS 6.5 oder weniger. Falls die Notwendigkeit der Benützung eines Rollstuhls erst vor kurzem eingetreten ist, kann die Behandlung diskutiert werden.

aHSCT kann auch bei progressiven Verlaufsformen in Betracht gezogen werden. Jeder Fall wird sorgfältig im interdisziplinären Team zwischen den beteiligten Neurologen und Hämatologen diskutiert.

Die oben genannten Kriterien orientieren sich zum einen an den erst kürzlich aktualisierten Richtlinien zur aHSCT bei Autoimmunerkrankungen von Snowden et al.  und zum anderen an Publikationen des letzten Jahres, in denen die Erfahrungen mit der aHSCT zusammengefasst werden. Im Einzelfall werden wir uns auch mit erfahrenen Kollegen im Ausland besprechen, die seit langem die aHSCT durchführen.

Wie müssen MS-Betroffene vorgehen, wenn Sie sich für die Stammzelltherapie interessieren?

RM: Den Weg der Anmeldung für eine Voruntersuchung bzw. Kontaktaufnahme legen wir momentan fest.

Was genau wird von der Krankenkasse übernommen?

RM: Die Kosten für die aHSCT werden komplett übernommen. Die neurologische Vor- und Nachbetreuung der Patienten sowie die Begleitung der Patienten während der aHSCT orientieren sich am medizinischen Standard. Wir haben hierzu ein Protokoll erarbeitet, in dem das Vorgehen vor und nach der Behandlung festgelegt ist und dieses mit der Kantonalen Ethikkommission abgestimmt.

Weshalb sind viele Ihrer Kollegen eher skeptisch gegenüber aHSCT?

RM: In der überwiegenden Mehrzahl meiner Kollegen liegt die Skepsis vermutlich darin begründet, dass sie keine eigene Erfahrung mit der aHSCT  aufweisen und sich noch nicht intensiv mit dem Thema befasst haben. Dies ist ganz normal, da bisher nur wenige Zentren die Behandlung bei MS einsetzen und wir Neurologen die aHSCT nicht selbst durchführen, sondern auf die enge Zusammenarbeit mit einem interessierten Kollegen oder einer Kollegin aus der Hämatologie angewiesen sind. Am USZ sind das Dr. Urs Schanz und sein Team. Wir werden uns auf jeden Fall bemühen, diese Therapie weiterzuverbreiten und den Kollegen die besonderen Aspekte zu vermitteln.

In anderen Ländern ist die aHSCT bereits zugelassen. Wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich?

RM: Bisher gehörte die Schweiz zu den Ländern, in denen es für MS-Betroffene schwierig war, eine autologe Stammzelltransplantation zu erhalten. In einigen Ländern ist sie bereits seit geraumer Zeit zugelassen (z.B. Schweden, Polen), in anderen ist die Durchführung und Vergütung auf Expertenmeinung möglich (unter anderem England, Italien und Dänemark). In vielen Staaten ist sie nach wie vor nicht möglich. Die Schweiz gehört nun zu den Ländern, in denen die aHSCT zur Verfügung steht. Das Register, das sorgfältige Auswahlverfahren und die Durchführung an einem Zentrum durch Experten sowie die strukturierte Nachbeobachtung der Patientinnen und Patienten sind dabei Bedingungen, die einen guten Kompromiss darstellen.

Die Behandlung ist teuer. Wie schätzen Sie das Kosten/Nutzen-Verhältnis ein?

RM: Berücksichtigt man die jährlichen Kosten der zugelassenen Medikamente, die Notwendigkeit der Injektion/Infusion in bestimmten Abständen, welche mit Arztbesuchen oder Kurzaufenthalten in Tageskliniken einhergehen, die Kontrolluntersuchungen (Leberwerte, Blutbilder, MRI), das Nebenwirkungsmonitoring und in einzelnen Fällen die anfallende Behandlung teils gravierender Nebenwirkungen wie die gravierende Gehirnerkrankung «progressive multifokale Leukoenzephalopathie» oder sekundäre Autoimmunerkrankungen, dann sind die Kosten der aHSCT bereits nach 3 bis 5 Jahren geringer als bei den Standardtherapien. Dies berücksichtigt noch nicht den Gewinn an Lebensqualität, also die Einmalbehandlung versus eine Dauertherapie (bei den meisten anderen Therapien). Dieser Punkt sollte in Zukunft systematisch untersucht werden.

Was halten Sie von aktuellen medikamentösen Therapien?

RM: Die für MS zugelassenen Medikamente verbessern sich laufend. Dies stellt für Patienten und Ärztinnen oder Ärzte gleichermassen einen grossen Erfolg dar. Wir schöpfen in unserer Abteilung das gesamte Behandlungsspektrum an zugelassenen sowie einiger off-label einsetzbarer Medikamente aus. Wir tun dies sowohl, was die immunmodulatorischen Substanzen betrifft, als auch die Wirkstoffe für wichtige Symptome der MS wie z.B. Müdigkeit oder Spastik. Daran wird sich durch die aHSCT auch nichts ändern. Ich gehe fest davon aus, dass in den nächsten Jahren die medikamentösen Behandlungen weiter verbessert, aber auch neue Behandlungsverfahren wie Toleranzinduktion erprobt werden.

Wie sehen Sie allgemein die Zukunft in der MS-Behandlung?

Für mich ist es wichtig, dass einerseits noch wirksamere Behandlungen mit weniger Nebenwirkungen entwickelt werden. Auch wünsche ich mir durchgreifende Behandlungen für die Formen/Stadien, die momentan nur unvollständig behandelbar sind, zum Beispiel sekundär chronische  und primär progrediente MS. Zusätzlich sollten neuro- und myelin-protektive Behandlungen dazukommen, die bisher komplett fehlen sowie regenerative Ansätze, die bereits geschädigtes Gewebe in Gehirn und Rückenmark funktionell wiederherstellen. Zu guter Letzt braucht es  auch für die wichtigsten Symptome (Fatigue, Spastik, Störungen von Blase, Darm- und Sexualfunktion, u.s.w.) wirksame Behandlungen.

Was bedeutet die Möglichkeit einer Stammzelltherapie gesellschaftlich?

RM: Der Gewinn an Lebensqualität und der Erhalt von Arbeitsfähigkeit, die beide durch Stammzelltherapie für einen höheren Prozentsatz der Patienten als durch die zugelassenen Therapien erreicht werden sollte, stellen weitere sozioökonomische Vorteile dar.

Sie arbeiten während der Studie mit dem Schweizer MS Register zusammen. Welche Vorteile hat diese Zusammenarbeit?

RM: Den Einschluss der behandelten MS-Betroffenen in das Schweizer MS-Register halte ich für sinnvoll, wenn die Patientin oder der Patient dies wünscht. Wir werden dieses Angebot mit den Patienten jeweils besprechen. Wir sind bereits am Schweizer MS Register und der Kohortenstudie beteiligt. Gemeinsam mit der MS-Gesellschaft werden wir überlegen, wie wir das «aHSCT bei MS» Register des USZ mit dem Schweizer MS Register und der Kohortenstudie verbinden können und wie wir dadurch die komplexe Behandlung nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand optimal durchführen und weitere Forschung zur aHSCT auf diesem aufzubauen können.

Am Universitätsspital Zürich sind folgende Experten beteiligt:

  • Klinik für Neurologie: Dr. Ilijas Jelcic, Dr. Helen Hayward Könnecke, Prof. Dr. Andreas Lutterotti, Prof. Dr. Roland Martin (Hauptverantwortung)
  • Klinik für Hämatologie: PD Dr. Antonia Müller, Dr. Cosima Suter, PD Dr. Urs Schanz (Hauptverantwortung)

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