Invalidenversicherung: Theorie und Praxis

Neues aus der Politik

Die Invalidenversicherung verfolgt seit mehreren Jahren den Grundsatz: «Eingliederung vor Rente.» Dabei geht sie von einem «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» aus. So viel zur Theorie. Wie sieht die Praxis aus?

Die Invalidenversicherung (IV) geht von einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt aus. Das bedeutet, dass es auf dem Arbeitsmarkt für alle einen geeigneten Job gebe, selbst wenn die Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt ist. Aufgrund von verschiedenen Studien und Praxisfällen wird diese Grundannahme von Fachpersonen zunehmend in Frage gestellt oder moniert, da sie die Realität schon länger nicht mehr abbilde.

Die IV berechnet einen Rentenanspruch basierend auf den letzten Erwerbseinkommen und hypothetischen Invalideneinkommen. Ein Rentenanspruch besteht erst ab einer Erwerbseinbusse von 40 %. Das Recht auf eine Umschulung ab 20 %. Diese aktuelle Berechnung der Rentenansprüche orientiert sich an Löhnen, wie sie sich auf dem realen Arbeitsmarkt mit reduzierter Leistungsfähigkeit kaum verdienen lassen und stützt sich auf Lohnstrukturerhebungen des Bundesamts für Statistik. Dabei handelt es sich um die mittleren statistischen Löhne von gesunden Arbeitnehmenden, aufgeschlüsselt nach den Kompetenzanforderungen. Experten sind der Meinung, es sei problematisch, aufgrund von diesem Kompetenzprofil ein Invalideneinkommen zu berechnen. Eine neue Studie des Büro Bass zeigt auf, dass Löhne von gesundheitlich beeinträchtigen Personen zwischen 10 % - 15 % unter den statistischen Löhnen liegen.

Es fehlen leichte Hilfsarbeiten, die weniger hohe Anforderungen an die psychische oder körperliche Belastbarkeit stellen. Oft sind solche Tätigkeiten geschützte Arbeitsplätze, mit denen kein existenzsicherndes Einkommen erzielt werden kann. Insbesondere Menschen, die vor der Erkrankung keinen hohen Lohn hatten, erhalten mit diesem System oft zu wenig finanzielle Unterstützung und sind auf die Sozialhilfe angewiesen.

Die Herausforderungen sind auch für die IV vorhanden. Es können keine Jobangebote geschaffen werden, die der Arbeitsmarkt nicht anbietet. Trotzdem sollten Rentenentscheide gerecht sein und auf Tatsachen basieren und nicht auf der Grundannahme, es sei trotz einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit möglich, auf dem Arbeitsmarkt eine geeignete Stelle zu finden.

Auch MS-Betroffene erleben diese Fragestellungen und Widersprüchen immer wieder im Alltag. Das Beratungsteam der Schweiz. MS-Gesellschaft kennt diese Situationen und steht MS-Betroffenen und Angehörigen bei Fragen rund um die IV zur Verfügung. Lesen Sie dazu auch die verschiedenen Beiträge in unseren MS-Infoblättern.

Quellen: Artikel Tages Anzeiger Zürich vom 8.2.2021 «Keine Chance auf Unterstützung» und«Die IV fällt realitätsferne Entscheide»