Schule, psychiatrische Symptome und MS

Fachartikel

Schulprobleme und psychiatrische Symptome bei Kindern und Jugendlichen mit MS – Erfahrungen und Tipps aus der neuropädiatrischen MS Sprechstunde.

Multiple Sklerose (MS) im Kindes- und Jugendalter ist selten und zeigt – verglichen mit Beginn im Erwachsenenalter – einige Besonderheiten, die in der Betreuung dieser jungen Patienten von grosser Bedeutung sind. Als wichtigster Unterschied ist die Tatsache zu sehen, dass MS im Kindes- und Jugendalter ein sich noch in der Entwicklung befindliches Gehirn betrifft.

Der chronisch ablaufende Entzündungsprozess greift Strukturen an, die noch nicht voll ausgreift sind und ist eine Erklärung für die früh auftretenden kognitiven Probleme, die junge MS-Betroffene zeigen – dies im grossen Gegensatz zur exzellenten motorischen Erholung von den ersten Schüben. Untermauert wird diese Annahme durch die Tatsache, dass bei den jungen Patienten das Hirnvolumen bereits geringer ist als bei gesunden Alterskontrollen. Aber was bedeuten diese vorerst nur messtechnisch nachweisbaren Befunde für den Alltag dieser jungen Menschen? Und – noch viel wichtiger – wie können Spezialistinnen diesen Betroffenen helfen?

Während die körperliche Leistungsfähigkeit in der Regel nicht eingeschränkt ist, können sogenannte Teilleistungsstörungen bereits bei Diagnosestellung den Schulalltag erschweren. Der Clou ist es, diese zu erkennen – was nur geschieht, wenn man sich deren Existenz bewusst ist. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit und die Gedächtnisleistungen sind am häufigsten betroffen. Im Alltag äussert sich dies mit schulischen Problemen, die zunehmen, je komplexer die Anforderungen im Schulalltag werden.

Diese Auffälligkeiten werden häufig verkannt. Der Schüler wird nicht selten als unkonzentriert, faul oder wenig motiviert abgestempelt – man sieht ihm von aussen ja nichts an. Erfahrungen aus dem Sprechstundenalltag zeigen, dass es auch Situationen gibt, in denen die MS Diagnose durch die Lehrperson angezweifelt wurde mit der Begründung, dass es MS im Kindesalter gar nicht geben würde und der Schüler sicherlich nur eine Ausrede suche, um gewisse Aufgaben nicht machen zu müssen. Das führt verständlicherweise zu grossen Frustrationen bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Sie müssen bereits mit der Diagnose einer chronischen Erkrankung fertig werden, die sie ihr Leben lang begleiten wird und fühlen sich in solchen Situationen doppelt bestraft. Die oftmals parallel dazu ablaufende Pubertät macht die Gesamtsituation nicht gerade einfacher.

Kein Problem der Intelligenz

Es gilt festzuhalten, dass es nicht ein Problem der Intelligenz ist. Mit den notwendigen Anpassungen im Schulalltag können junge MS-Betroffene ihr Potential voll ausschöpfen. Umso frustrierender ist es, wenn Anpassungen nicht oder erst mit grosser zeitlicher Verzögerung getätigt werden. Solche Anpassungen nennt man Nachteilsausgleich, der im Gesetz verankert ist. Ein Schüler mit MS hat Anrecht auf die Anpassungen, damit er durch die Krankheit in der Schule und später bei der beruflichen Ausbildung nicht benachteiligt wird.

Als erstes brauchen MS-Schüler eine Betreuung durch Fachkräfte, die über ausreichend Erfahrung mit MS in dieser Altersgruppe verfügen. Nur so kann gewährleistet werden, dass die altersspezifischen Therapien und Abklärungen ohne nennenswerte Verzögerungen eingeleitet und notwendige Massnahmen patientengerecht umgesetzt werden. Die medizinische Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit MS gehört daher in die Hände von erfahrenen Kinderneurologen. Regelmässige neuropsychologische Testungen ab Diagnosestellung stellen einen essentiellen Pfeiler der Betreuung dieser Patienten dar. Nur so können Teilleistungsstörungen und damit verbundene schulische Probleme zuverlässig erkannt und wo nötig, der Nachteilsausgleich und entsprechende Unterstützungs-Massnahmen beantragt werden.

Ferner ist es von grosser Bedeutung, das Bewusstsein in der Bevölkerung zu schärfen, dass Kinder und Jugendliche an einer MS erkranken können. Es gibt diese Diagnose, und die jungen Patienten sind in ihrer Diagnose und den damit verbundenen Herausforderungen ernst zu nehmen.

Es erstaunt daher auch nicht, dass Kinder und Jugendliche mit MS mehr an psychiatrischen Symptomen leiden als ihre Altersgenossen. In einer kürzlich veröffentlichen Arbeit aus Dänemark wurde dies beschrieben. Für die psychiatrischen Begleitsymptome ist es essentiell, dass diese im Arztgespräch aktiv erfragt werden. Jugendliche mit einer MS, die an depressiven Symptomen leiden, berichten dies nicht von sich aus.

Die Gründe hierfür sind mannigfaltig: einige schämen sich dafür, andere erkennen es bei sich nicht so genau oder wissen nicht, wie sie diese Stimmungen einordnen sollen und sind in erster Linie verunsichert. Je nach kulturellem Hintergrund handelt es sich dabei gar um ein Tabuthema, das mit grosser Vorsicht und Empathie angegangen werden muss. Gerade bei Jugendlichen kann es hilfreich sein, dieses Thema in Abwesenheit der Eltern anzusprechen. Dafür eignet sich auch mal die körperliche Untersuchung sehr gut, wenn fast «nebenbei» nach der Stimmung gefragt wird.

Im Sprechstundenalltag hat es sich bewährt, psychiatrische Symptome als Teil der Krankheit bzw. Krankheitsverarbeitung bereits zum Zeitpunkt der Diagnosestellung offen anzusprechen und Unterstützungsmöglichkeiten klar zu benennen. Diese Vorgehensweise wirkt auf viele Familien entlastend; wenn es dann zu einer depressiven Episode oder Angstproblematik kommt, trifft diese die Betroffenen nicht ganz unvorbereitet. Eine temporäre psychologisch-psychiatrische Begleitung soll grosszügig und niederschwellig angeboten werden. In diesem Rahmen kann auch der Einsatz von Medikamenten wie beispielsweise Antidepressiva evaluiert werden.

Schulprobleme im Sinne von Teilleistungsstörungen sind ein charakteristisches Merkmal der pädiatrischen MS. Nicht selten treten – meist vorübergehend – psychiatrische Begleitsymptome auf, die lange unbemerkt bleiben, wenn sie nicht aktiv erfragt werden. Regelmässige neuropsychologische Untersuchungen stellen daher zusammen mit den MS-spezifischen Medikamenten und MRI Kontrollen die essentiellen Grundpfeiler einer professionellen Betreuung dar, damit diese jungen Menschen ungeachtet ihrer MS Diagnose ihr Potential ausschöpfen und ihre Träume verwirklichen können.

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Text
- PD Dr. med. Sandra Bigi, Inselspital Bern und Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern
- MSc Barbara Kohler, Oberpsychologin Universitätskinderklinik Inselspital Bern