Management des Risikos opportunistischer Infektionen unter der MS-Behandlung
FachartikelMS-Behandlung und Infektionsrisiko
Die Multiple Sklerose entsteht durch Angriffe des Immunsystems auf die schützende Myelinscheide der Nervenzellen. Diese führen dazu, dass die Nerven Signale zu Empfindungen und Bewegungen nicht mehr richtig weiterleiten können. Die MS-Behandlung zielt darauf ab, diese Immunantwort zu blockieren und damit den von ihr verursachten Schaden zu begrenzen.
Die meisten Menschen mit MS haben eine schubförmig remittierende Form der Krankheit. Das bedeutet, dass sie kurze Phasen der aktiven Krankheit (die Schübe) erleben, und dann längere Phasen, in denen es ihnen besser geht, weil die Krankheit sich weniger bemerkbar macht (remittiert). Ein Schub wird in der Regel mit hochdosiertem Kortison behandelt, das die Immunantwort auf mehreren Wegen unterdrückt. Diese allgemeine Unterdrückung der Immunantwort kann jedoch das Infektionsrisiko erhöhen, weshalb Steroide, zu denen das Kortison gehört, in der Regel nur kurzfristig gegeben werden. Die weitere Behandlung während der Remissionsphase zielt darauf ab, die anomale Immunreaktion und Entzündungsvorgänge zurückzufahren.
Ältere MS-Medikamente wie Interferon-beta und Glatirameracetat steigern das Infektionsrisiko in der Regel nicht. Neuere Medikamente wie Fingolimod, Natalizumab und Alemtuzumab dämmen das MS-Geschehen besser ein, gehen aber manchmal mit höheren Infektionsraten einher. In seltenen Fällen sind diese Behandlungen auch mit dem Auftreten opportunistischer Infektionen in Verbindung gebracht worden1.
Als Krankheitserreger bezeichnet man Viren, Bakterien und Pilze, die Krankheiten auslösen. Opportunistische Infektionen werden von Krankheitserregern ausgelöst, die normalweise vom Immunsystem erfolgreich abgewehrt werden. Opportunistische Krankheitserreger nutzen die geschwächte Immunabwehr, um Infektionen auszulösen oder Krankheiten zu verursachen. Zwar ist es selten, dass Menschen, die MS-Medikamente erhalten, an einer opportunistischen Infektion erkranken, aber es kommt vor. Es gibt Strategien, um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten.
Beispiele für opportunistische Infektionen
Kurz nach seiner Zulassung wurde Natalizumab mit Fällen von progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie (PML) in Verbindung gebracht2. Zur PML kommt es, wenn das JC-Virus aktiviert wird, mit dem die meisten Erwachsenen infiziert sind, welches normalerweise jedoch nicht aktiv ist. PML ist eine schwerwiegende Krankheit, die zu kognitiven Veränderungen und Bewegungsstörungen führt und das Sehvermögen beeinträchtigt3. Die Krankheit verschlimmert sich im Laufe der Zeit und kann zu dauerhaften Behinderungen und sogar zum Tod führen3. Gründliche Untersuchungen der PML-Fälle haben Strategien hervorgebracht, um PML bei MS-Betroffenen, die mit Natalizumab behandelt werden, zu verhindern2,4. An einer wirksamen Überwachung mittels MRT wird geforscht. Ausserdem wird eine Impfung gegen PML erprobt, die sich aber noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium befindet.
Vereinzelt treten auch andere Fälle opportunistischer Infektionen auf, die auf eine MS-Behandlung zurückgeführt werden können. Ein jüngeres Beispiel ist ein Fall von kryptokokkaler Meningoenzephalitis, also einer durch Cryptococcus verursachten Entzündung von Gehirn und Hirnhäuten, in Verbindung mit einer Fingolimod-Behandlung5. Fingolimod verhindert, dass Immunzellen zu Entzündungsherden wandern. Erste Studien zur Behandlung von MS mit Fingolimod hatten kein erhöhtes Infektionsrisiko gezeigt. Seit der Zulassung des Medikaments sind jedoch einige Fälle schwerer Infektionen beschrieben worden.
Cryptococcus ist ein Pilz, der normalerweise im Erdreich vorkommt. Ein 40-jähriger Mann mit schubförmig remittierender MS war 2 Jahre lang mit Fingolimod behandelt worden und bekam dann furchtbare Kopfschmerzen, reagierte empfindlich auf Licht und wurde lethargisch. Als sein Zustand sich weiter verschlechterte, wurde schliesslich eine opportunistische Infektion mit Cryptococcus diagnostiziert. Die Behandlung mit Fingolimod wurde abgebrochen und der Mann erhielt Medikamente zur Pilzbekämpfung, die schliesslich die Infektion beseitigten5.
Ein weiteres Beispiel ist ein Fall von zerebraler Nokardiose, also eines Befalls des Gehirns mit dem Bakterium Nocardia, bei einer MS-Patientin, die mit Alemtuzumab behandelt worden war6. Alemtuzumab greift viele Arten von reifen Immunzellen an und zerstört diese. Erste Studien zeigten eine erhöhte Infektionsrate nach einer Behandlung mit Alemtuzumab, wobei die meisten Infektionen unbedenklich waren. Seither sind einige Fälle schwerer und opportunistischer Infektionen im Zusammenhang mit einer Alemtuzumabbehandlung gemeldet worden.
Nocardia ist ein Bakterium, das normalerweise im Erdreich vorkommt und bei manchen Menschen auch in der Mundhöhle lebt. Bei einer Frau Ende 40 wurde eine opportunistische Nokardiose diagnostiziert. Die Frau hatte eine Anorexie und war 9 Jahre lang wegen einer schubförmig remittierenden MS behandelt worden, die letzten 5 Monate davon mit Alemtuzumab. Sie wurde mit Antibiotika behandelt und erholte sich langsam. Es ist denkbar, dass aufgrund Ihrer Anorexie ihr Immunsystem schon zu Therapiebeginn geschwächt war, obwohl ihre Zellzahlen normale Werte aufwiesen. Die normale Alemtuzumabdosis für Erwachsene war für sie deshalb möglicherweise zu hoch6,7.
Umgang mit dem Infektionsrisiko unter der Behandlung
Jede Behandlung, die auf die Immunreaktion abzielt, kann Infektionen wahrscheinlicher machen. Zur Behandlung der MS stehen viele verschiedene Medikamente zur Verfügung, die alle unterschiedlich wirken und verschiedene Sicherheitsprofile aufweisen. Die für Sie am besten geeignete Behandlung hängt einerseits von Ihren Symptomen ab, aber auch von anderen Faktoren, die von Mensch zu Mensch verschieden sind. Zwar stellen Infektionen ein (geringes) Risiko bei der Behandlung dar. Dem gegenüber steht jedoch der grosse Nutzen, der sich aus der Eindämmung der MS-Erkrankung ergibt1.
Allgemein steigt das Infektionsrisiko mit der Behandlungsdauer. Um entscheiden zu können, welche Behandlung am besten geeignet ist, muss immer eine gründliche Dokumentation der medizinischen Vorgeschichte erfolgen (Anamnese). Darin sollte auch erfasst werden, welche Infektionen Sie bereits durchlebt haben, und ob Sie bereits mit Medikamenten behandelt wurden, die das Immunsystem beeinflussen. Auch sollten darin alle Symptome möglicher anderer Krankheiten verzeichnet sein. Gegen bestimmte Infektionen können Impfungen schützen, sofern sie vor Behandlungsbeginn verabreicht werden. Bei einer Behandlung mit Natalizumab lässt sich das PML-Risiko senken, wenn zusätzlich zu MRT-Aufnahmen auch die Antikörper gegen das JC-Virus überwacht werden. Ausserdem ist es wichtig, vor und während der Behandlung den Immunstatus zu überwachen. Dazu sind regelmässige Blutuntersuchungen nötig. Zu guter Letzt ist es besonders wichtig, sofort Ihre Ärztin oder Ihren Arzt aufzusuchen, wenn Sie neue Symptome bemerken1.
Dr. Lutz Achtnichts