Interview mit der MS Register Projektleiterin
Das Schweizer MS RegisterWie ist Ihr beruflicher Werdegang?
Nina Steinemann: Ich bin über verschiedene Stationen bei meiner beruflichen Passion angelangt. Angefangen hat es damit, dass mich der menschliche Körper und somit das Thema Medizin schon als Kind fasziniert haben. Deshalb habe ich mich nach der Maturität für ein Medizinstudium entschieden.
Nach dem ersten Studienjahr habe ich mich aber entschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen und mich für eine Ausbildung im Bereich Ernährungstherapie/-beratung interessiert. Die dreiährige Ausbildung zur dipl. Ernährungsberaterin erfolgte am Universitätsspital Zürich. Während der Ausbildung absolvierte ich mehrere Praktika in verschiedenen Spitälern. Im Anschluss daran habe ich vier Jahre als dipl. Ernährungsberaterin und /-therapeutin am Universitätsspital Zürich und Kantonsspital Winterthur gearbeitet und viel Erfahrung im Bereich der klinischen Ernährung sammeln können. Es war eine sehr spannende und lehrreiche Zeit, doch wurde mir klar, dass es mir zu praxisorientiert war und mich das Gebiet der Ernährungswissenschaft und Ernährungsverhaltensforschung im Speziellen mehr interessierten. Deshalb habe ich mich dann für den Masterstudiengang in Ernährung und Food Science an der ZHAW (Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften) in Wädenswil entschieden.
Durch meine damalige Professorin, Dr. Christine Brombach, bin ich schon früh mit dem Thema der Ernährungserhebungsmethoden in Berührung gekommen. Ich war für die Entwicklung und Überprüfung eines Fragebogens zur Erfassung der Ernährungsgewohnheiten mitverantwortlich. Die Fragestellung, wie man möglichst genau und zuverlässig die Ernährung erheben kann, ist zwar eine sehr komplexe und schwierige Aufgabe, aber auch ungemein spannend. Man kann sagen, dass mich das Thema schon damals vor über 10 Jahren so richtig gepackt hat.
Auch heute forsche ich noch zu diesem Thema. Meine Professorin hat mich nach Abschluss des Masterstudiums ermuntert, weiter zu forschen und dazu motiviert, eine Dissertation zu machen. Ich erhielt die Chance, den neu entwickelten Ernährungsfragebogen in einer der grössten epidemiologischen Langzeitstudien der Schweiz (SAPALDIA Studie) einzusetzen. Anhand von 3’000 ausgefüllten Fragebögen konnte eine spezifische Fragestellung zum Ernährungsverhalten von Personen mit einer chronischen Lungenkrankheit (COPD) beantwortet und publiziert werden.
Die breiten Erfahrungen während des Doktorats haben mich mit vielen epidemiologischen Fragestellungen konfrontiert und mein Interesse an epidemiologischer Forschung weiter gestärkt.
Wie sind Sie dann zum MS Register gestossen?
Nina Steinemann: Zu Beginn meiner Dissertation suchte ich einen Nebenjob. Die damalige Leiterin der Studie vermittelte mir einen Kontakt zum Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention (damals noch Institut für Sozial- und Präventivmedizin) in Zürich. Dort wurde tatsächlich jemand für die Mitarbeit im Datenzentrum des Herzinfarktregisters (AMIS Plus) gesucht. So konnte ich im Januar 2012 mit einem Teilzeitpensum für das AMIS Plus beginnen und war mitverantwortlich für das Datencontrolling der eingegebenen Umfragen.
Nebst dieser Aufgabe konnte ich nebenbei weiterhin an meiner Dissertation arbeiten und war auch noch in einem weiteren Forschungsprojekt zum Thema Ernährung an der ZHAW in Wädenswil tätig. Im Jahr 2014 wurde das EBPI an der Universität Zürich von der Schweiz. MS-Gesellschaft beauftragt, auf Initiative von MS-Betroffenen ein MS Register zu planen. Ich fand die Idee sehr spannend und war sofort interessiert, bei diesem tollen Projekt mitzuwirken. Unter der Leitung von Prof. Milo Puhan (Direktor EBPI) und Prof. Viktor von Wyl (Wissenschaftlicher Leiter MS Register) starteten wir die Projektplanung im Sommer 2014.
Am 1. Schweizer MS Tag, dem 25. Juni 2016, war es dann soweit und das Schweizer MS Register wurde offiziell lanciert – ein ganz besonderer Tag!
Welche Arbeit macht Ihnen besonders Freude?
Nina Steinemann: Es ist schwierig, hier knapp zu antworten, da mir vieles an der täglichen Arbeit gefällt: Die gesamte Komplexität des MS Registers, auch das neuartige Design, also wie man eine solche Studie gestaltet, wie man den Fokus auf Interaktion mit den Studienteilnehmenden legt, diese in einen regelmässigen Austausch einbezieht. Das MS Register ist ein Citizen-Science Projekt mit enormem Forschungspotential, wenn man den Blickwinkel der Betroffenen integriert und nicht nur nach Schulbuch vorgeht, sondern eben über den Tellerrand hinausschaut. Wie erfasst man die Lebenssituation von Personen mit MS am besten, was sind entscheidende Faktoren, die gewisse Alltagssituationen erleichtern oder auch erschweren können? Mit unserem Projekt haben wir die Möglichkeit, die Stimme der Betroffenen zu medizinischen, sozial- und gesundheitspolitischen Aspekten miteinfliessen zu lassen. Dass uns das mit dem MS Register gelungen ist, macht mir grosse Freude.
Auch die konkrete Auseinandersetzung mit dem Forschungsthema MS ist sehr spannend und wichtig, da noch viele Fragen ungeklärt sind.
Das Schöne ist, dass ich jeden Tag gerne zur Arbeit komme, weil ich meine Arbeit als sehr sinnvoll erachte. Zudem macht die Zusammenarbeit in unserem Team grossen Spass und man kann auch voneinander lernen, da jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter auf unterschiedlichen Gebieten spezialisiert ist.
Was sind die wichtigsten Erfahrungen und Highlights der letzten Jahre?
Nina Steinemann: Ein Highlight ist sicher die Lancierung des Schweizer MS Registers am 1. Schweizer MS Tag, auf den wir mit viel Engagement hingearbeitet haben. Es gab so viele Leute, die sich für das Register interessiert haben und gleich über 200 Anmeldungen an einem Tag. Das ist für mich ein sehr bleibender Moment.
Einen weiteren Meilenstein stellt die Spezialumfrage «Mein Leben mit MS» dar. Von der Idee, über die Entwicklung bis zur Umsetzung der Umfrage waren MS-Betroffene die Taktgeber. Jede MS-Biographie ist individuell und es gibt bisher nur ganz wenige Studien, die beschreiben, wie MS-Betroffene ihre eigene Geschichte erleben. Wir konnten dank dieser Umfrage bereits viele neue Erkenntnisse gewinnen und über verschiedenste Kommunikationskanäle verbreiten.
Für mich persönlich war natürlich auch die Ernährungsumfrage ein Highlight, bei der über 1'000 Registerteilnehmende mitgemacht haben, was das grosse Interesse an diesem Thema auch widerspiegelt. Dieser Datenschatz bietet nun enorm viel Potential, um verschiedene aktuelle Forschungsfragen zu untersuchen. Beispielsweise starteten wir mit einem Projekt zu Ernährungsmustern und Fatigue, deren Ergebnisse wir auf diversen Kanälen kommuniziert haben (z.B. auch in einem Webinar). Wir werden zu diesem Thema auch weiterhin informieren, mit zusätzlichen Webinaren und Workshops.
Ein wichtiger Meilenstein aus Sicht des Registers war 2019 auch die Prävalenzschätzung, die in diesem Jahr aktualisiert wird. Seit der letzten Schätzung vor 30 Jahren ist die Zahl der Personen mit MS in der Schweiz um etwa 50% auf 15'000 Personen angestiegen. Daraus ergaben sich natürlich zusätzliche Fragen zur Beantwortung der Zunahme, wie beispielsweise zu möglichen Risikofaktoren.
Als logische Konsequenz entstand so der Fragebogen «Risikofaktoren und MS», eine der innovativsten und komplexesten Umfragen, die das Register je durchgeführt hat und somit ein und somit ein weiteres wichtiges Highlight war, welches nur dank dem enormen Team-Effort realisiert werden konnte. Soweit mir bekannt ist, sind wir im internationalen Vergleich das erste MS Register, welches die Teilnehmenden auch nach ihren eigenen Einschätzungen und Wahrnehmungen zur Entstehung der MS befragt hat.
Wie sieht eine Ihrer typischen Arbeitswochen aus?
Nina Steinemann: Seit Corona hat sich das leicht verändert. Momentan ist es eine Mischung aus Homeoffice und Arbeit vor Ort im Büro. Morgens lese ich zuhause als erstes meine Mails und kann mir so schon einmal einen Überblick verschaffen, bevor ich mich um das Frühstück meiner zwei Jungs kümmere und schaue, dass sie pünktlich in die Schule kommen.
Mein Ritual, wenn ich vor Ort arbeite: Ich gehe zu Fuss ins Büro, geniesse die Ruhe und die rund 10-minütige Bewegungseinheit, die ich für mich habe. Ich komme dann ganz entspannt im Büro an und bin bereit für den Tag.
Meine 4-Tage-Woche ist sehr abwechslungsreich. Die erste Hälfte der Woche ist meist mit Meetings und Besprechungen gefüllt und in der zweiten Hälfte der Woche habe ich Zeit, mich um das Tagesgeschäft zu kümmern. Einen grossen Teil davon macht die Kommunikationsarbeit aus, eines der wichtigsten Elemente des Registers. Wir investieren sehr viel Zeit, um die Erkenntnisse und Analysen der Umfragen nach aussen zu tragen und in verständlicher Form den Teilnehmenden, Fachpersonen aber auch der breiten Öffentlichkeit zu kommunizieren, sei es mit Vorträgen, Webinaren, Workshops, Newslettern oder Online Beiträgen.
Dies ist sehr zeitintensiv, da wir alles in drei Sprachen zur Verfügung stellen. Nebst administrativen Arbeiten wie Mitarbeiterführung widme ich mich aktuellen Forschungsthemen und Analysen, die anstehen, immer in enger Kooperation mit den wissenschaftlichen Mitarbeitenden, dem Datenmanager und dem Forschungskommittee des Registers.
Was möchten Sie mit dem MS Register noch erreichen?
Nina Steinemann: Meine Vision für das MS Register: Ich wünsche mir, dass in den nächsten Jahren alle MS Betroffenen und MS-Fachpersonen der Schweiz das Schweizer MS Register kennen und wir uns so noch besser für die Erforschung der Krankheitsbürde und Lebensqualität von MS-Betroffenen einsetzen können. Natürlich möchte ich auch noch mehr Teilnehmende für unser Projekt gewinnen, vor allem auch in der Romandie und im Tessin, damit wir gewisse Fragestellungen noch regionalisierter beantworten können. Zudem hoffe ich, dass wir aus den bereits erhobenen Langzeitdaten (Krankheitsverläufe, Symptome) weitere wichtige Erkenntnisse gewinnen können, um den Alltag von MS-Betroffenen zu verbessern, dies in enger Zusammenarbeit mit der Schweiz. MS-Gesellschaft und dem Research Committee.
Was mich aus persönlicher Sicht natürlich besonders freuen würde, wäre, wenn wir das Thema Ernährung noch vertiefen könnten.
Was machen Sie als Ausgleich zur Arbeit?
Nina Steinemann: Wie erwähnt, habe ich zwei Söhne im Alter von sieben und neun Jahren. Das bildet zu meiner sonst eher kopflastigen Arbeit einen sehr guten Ausgleich und fordert mich in Bezug auf Bewegung und Kreativität heraus. Ausserdem koche und backe ich sehr gerne, am liebsten mit der Familie und Freunden, bin gerne draussen in der Natur und pflege meine Leidenschaft für die Musik.