Gedanken zur inneren Stärke: Lernen von MS-Betroffenen

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Prof. Dr. Jürg H. Beer, Präsident der Schweiz. MS-Gesellschaft, beschreibt die beeindruckende Resilienz von Menschen mit Multipler Sklerose (MS) und wie sie selbst inmitten der Herausforderungen des Lebens mit der Krankheit wachsen. Ihre Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen, Prioritäten zu setzen und ihre Lebensqualität zu bewahren, kann für Nichtbetroffene inspirierend sein. 

Die Diagnose einer unheilbaren Krankheit reisst aus dem bisherigen Leben und zwingt zur Neuorientierung und -ausrichtung. Limitierte Zeiten und Möglichkeiten werden schmerzhaft konkret. Ein Anfang zeichnet sich ab, neue Wege müssen beschritten werden. Die betroffene Person wird in eine neue, andere Stufe des Lebens befördert. Hermann Hesse beschreibt in seinem vielschichtigen Gedicht* trefflich diese «Lebens-Stufen» und den Prozess fortwährender Veränderung (und Erneuerung), den oft schmerzhaften, unaufhaltsamen Übergang in einen immer wieder neuen Lebensabschnitt, der dann mit Mut, etwas Neugier – und gelegentlich auch Gewinn – zu bewältigen sein wird. Manche Stufen jedoch scheinen schier nicht zu bewältigen und konfrontieren mit Unsicherheit, Sorge, Frustration und Verzweiflung.

Hesses Betrachtungen über Stufen treffen besonders auch auf die Menschen zu, die mit Multipler Sklerose (MS) leben. Die Diagnose dieser oft sehr schweren neurologischen Erkrankung kann das Leben radikal verändern und Menschen in eine Welt der Ungewissheit führen. Es ist, als ob sie von einer bekannten und vertrauten auf eine völlig unbekannte Stufe des Lebens geworfen werden.  

Doch äusserst bemerkenswert ist für mich die Art und Weise, wie Menschen, die mit MS leben, auf diese Herausforderung reagieren und dabei bewundernswert wachsen: Die Resilienz vieler Betroffener zeigt sich in ihrer Fähigkeit, diese scheinbar unbezwingbaren Stufen zu meistern. Trotz der physischen und emotionalen Belastungen, welche die Krankheit mit sich bringt, finden sie den Mut, zu reagieren und voranzuschreiten. Die oft ihnen selbst bislang nicht bewusste innere, erwachende und wachsende Stärke ermöglicht es, sich nicht kleinkriegen zu lassen. Dieser Weg ist oft schwierig, lang und entbehrlich. Und genau hier erwächst unsere Pflicht, die der Nichtbetroffenen und natürlich der MS-Gesellschaft, zu unterstützen und gezielt, unkompliziert, zeit- und praxisnah gemeinsame Lösungen zu suchen und zu finden. Betroffene als Mentoren bringen oft zusätzliche wertvolle Erfahrungen ein, was wir innerhalb der Regionalgruppen immer wieder beobachten.

Die Anpassungsfähigkeit von MS-Betroffenen ist bewundernswert. Sie lernen, mit den Symptomen umzugehen, ihre täglichen Aktivitäten neu zu planen und ihre Lebensqualität zu bewahren und immer wieder zu priorisieren. Diese oft hart errungene Fähigkeit ermöglicht es ihnen, ein erfülltes Leben zu führen, selbst wenn die Krankheit scheinbar unüberwindliche Hürden und endlose Stufen und Treppen aufbaut.

Nichtbetroffene können davon lernen, wie Betroffene fokussierter durchs Leben kommen, oft direkter Dinge ansprechen, Wichtigeres von weniger Wichtigem oder gar Störendem mit grosser Klarheit trennen. Nichtbetroffene profitieren für sich selber von den Erkenntnissen dieser Entwicklung, besonders dann, wenn sie mit Betroffenen gemeinsam Stufen überwinden oder aus dem Weg räumen.

Diese Reise durch die verschiedenen Stufen des Lebens mit MS mag herausfordernd sein, sie ist aber auch ein inspirierendes Beispiel für die menschliche Resilienz und die Fähigkeit, immer wieder neu aufzustehen und die nächste Stufe in Angriff zu nehmen.

Mit Hermann Hesse stellen bestimmte Stufen für Betroffene (und Nichtbetroffene) nicht ausschliesslich schmerzvolle Hindernisse dar, sondern können gar, oft erst retrospektiv, als Hilfestellung dienen, um neue Möglichkeiten, Perspektiven und Chancen zu erkennen und nach vorne zu blicken. Durch die Bewältigung der Stufen können sie eine hohe Wertschätzung für das Momentum im Alltag entwickeln, fokussiertes Wachstum und Erneuerung ermöglichen.

Ich habe viel von Betroffenen gelernt. Nichtbetroffene sollten die Gelegenheit nicht verpassen, sich von ihnen «eine Scheibe Resilienz abzuschneiden» und in ihren eigenen Alltag hinüberzunehmen: «Lernen durch aktives sich-involvieren-Lassen» ist für beide Seiten gewinnbringend.

 

Stufen» (geschrieben im Mai 1941) ist der Titel eines der bekanntesten philosophischen Gedichte des deutschen Autors Hermann Hesse.