Angehörige sind ebenfalls von MS betroffen. Sie müssen sich mit einem veränderten Gesundheitszustand eines geliebten Menschen und den entsprechenden Auswirkungen auseinandersetzen, die sie möglicherweise das ganze Leben begleiten.
Angehörige sind alle Personen, die jemandem nahestehen, der oder die an MS erkrankt ist. Dabei kann es sich unter anderem um Lebenspartner, Eltern, Geschwister, Freunde, Arbeitskolleginnen oder Nachbarn handeln, die mit Betroffenen in Kontakt stehen, sich mit ihnen verbunden fühlen und sich möglicherweise um sie kümmern. Fragt man Angehörige, wie sie ihre Beziehung verstehen, bekommt man vielfältige Antworten: Einige begleiten, sind einfach da, andere sprechen von unterstützen oder managen, manche übernehmen die Pflege oder einen Teil davon. Krankheitsbedingte Verschlechterungen lösen Gefühle wie Zukunftsangst, Wut, Frust und Verzweiflung aus, die auch die Angehörigen erleben. Sowohl Betroffene als auch Angehörige fragen sich, wie das veränderte Leben zu bewältigen ist, suchen nach Antworten und Lösungen, denken positiv und fühlen sich stark, hadern oder sind komplett überfordert. Nicht immer verläuft dieser Krankheitsbewältigungsprozess synchron und parallel zwischen den beiden. Trotzdem zeigt sich in Studien, dass die objektive und subjektive Belastung der Angehörigen eng mit dem aktuellen Wohlbefinden des oder der Betroffenen verknüpft ist.
Die Anfangszeit und der «Diagnoseschock»
Gerade in dieser Phase sind die Angehörigen und nahestehenden Menschen besonders gefordert. Angehörige nehmen in der ersten Krankheitsphase oft eine unterstützende Rolle ein, indem sie sich gemeinsam mit den Betroffenen informieren und sie durch viele medizinische Untersuchungen und sozialrechtliche Institutionen begleiten. Zugleich bieten sie Entlastung, indem sie in dieser aussergewöhnlichen Situation für die Betroffenen ein Gesprächspartner sind, ihnen Zuversicht demonstrieren, ihnen ihre Nähe und Verbindlichkeit versichern. Während also Angehörige aufmerksame Zuhörer, sensible Partner und eine besonders starke Stütze sind, stellen sie ihre eigenen Belange oftmals weitgehend zurück. Dies wird teilweise vom Umfeld durch entsprechende Aussagen bewusst oder unbewusst gefordert. In der Folge bleibt Angehörigen kaum Raum zur Verarbeitung der eigenen, durch die Krankheit bedingten Veränderungen der Lebensumstände.
Und dann ist wieder Alltag
Ist seit dem ersten Schock etwas Zeit vergangen, tritt vielfach eine Form der Normalisierung ein. Trotzdem ist vieles nicht mehr so, wie es war, denn die MS wird zu einem festen Bestandteil des Lebens und beeinflusst die Lebensgestaltung. Dies zwingt auch Angehörige, sich laufend mit den krankheitsbedingten Veränderungen auseinander zu setzen, auf diese zu reagieren und ihre Lebenspläne und -gewohnheiten anzupassen. Fragen drängen sich auf: Wie funktioniert das mit dem Arzt und den Therapieterminen, was wird mit der Berufstätigkeit, soll man den Haushalt und die Zuständigkeiten umstellen, braucht es eine praktischere Wohnung, gibt es finanzielle Einbussen, ist es externe Hilfe nötig. Wie soll man es den Kindern erklären, wie dem Arbeitgeber, den Freunden, den Nachbarn. Bei MS können solche Fragen schnell oder schleichend über einen langen Zeitraum auftreten. Es entwickelt sich eine Dynamik, bei der die Angehörigen selbstverständlich, und oft wenig reflektiert, stetig mehr Aufgaben oder Verantwortung übernehmen. Viele Angehörige handeln nach dem eigenen Anspruch, den Betroffenen fortwährend die bestmögliche Unterstützung bieten zu müssen. Auch das professionelle Versorgungssystem der Schweiz zählt indirekt auf die Angehörigen und plötzlich finden sich diese in der Rolle des Vermittlers bei ärztlichen und sozialrechtlichen Problemen, aber auch als Hilfsperson bei pflegerischen Tätigkeiten wieder.
Das Zusammenleben neu erfinden
Durch die MS entstehen veränderte Rollen und Abhängigkeiten. Tatsächlich ist es schwierig, mit einer Lebenssituation umzugehen, die beispielsweise einen ehemals alleinverdienenden Familienvater nun in die Rolle eines hilfsbedürftigen Teilzeitangestellten zwingt und damit der Ehefrau neben der Rolle der Erzieherin zugleich pflegerische und existenzsichernde Funktionen aufbürdet. Oder die Mutter im Seniorenalter zwingt, ihren MS-betroffenen Sohn wieder zu umsorgen und ihn trotz ihrer sinkenden körperlichen Gesundheit im Alter zu pflegen. Beispiele für solche Rollenumstellungen gibt es so viele, wie die MS Gesichter hat. Die schleichende Rollenverschiebung kann bei Angehörigen langfristig zu Überlastungssituationen führen. Grund dafür ist nicht selten die dauerhafte Unterordnung eigener Bedürfnisse bei gleichzeitiger maximaler Ausschöpfung körperlicher und emotionaler Ressourcen. So erstaunt es nicht, dass pflegende Angehörige gegenüber der Durchschnittsbevölkerung häufiger sowohl körperliche als auch psychische Erkrankungen entwickeln und einen höheren Konsum von Schmerzmitteln und Psychopharmaka aufweisen. Mit der Krankheit können Veränderungen des Körpers einhergehen – etwa eine durch die Spastik bedingte veränderte Körperhaltung, Störungen beim Gehen, Blasenstörungen oder Hautprobleme. Eine eingeschränkte Mobilität führt nicht selten zu einer Abnahme sozialer Aktivitäten, wovon auch die Angehörigen betroffen sind. Aus Rücksicht äussern diese wiederum ihre eigenen Bedürfnisse nach Sozialkontakten häufig nicht oder schränken sich stillschweigend ein. Lieber nehmen sie eine Einschränkung der eigenen sozialen Kontakte in Kauf, als dem oder der Betroffenen das Gefühl zu geben, unzulänglich oder eine Last zu sein. Dies kann zu Unzufriedenheit, Resignation und Aggressionstendenzen führen. Gemeinsam stark lautet die Devise: Probleme managen, Hilfe bieten und diese auch annehmen sind wichtige Schritte, um gemeinsam das Leben mit MS zu meistern.
«Ich gehe nicht gerne weg. Wenn etwas passiert, bin ich schuld!»
Pflege- oder Betreuungssituationen verlangen viel von Angehörigen und bedeuten nicht selten erhebliche körperliche und seelische Anstrengungen. Oft ist der Anspruch da, dass man es alleine schaffen kann. Schliesslich ist man ja der Gesunde und muss stark bleiben. Daran festzuhalten kann längerfristig überfordern und krank machen. Pflegende Angehörige sind auf Entlastungsstrategien angewiesen, um der eigenen psychischen und körperlichen Überlastung entgegenzuwirken und vorzubeugen. Die eigene Rückzugsmöglichkeit, die eigene Regeneration ernst zu nehmen, bedeutet auch, Hilfe anzunehmen und sich beispielsweise von professionellen Diensten wie der Spitex helfen zu lassen.
Die MS-Gesellschaft berät (pflegende) Angehörige und unterstützt sie dabei, individuelle Strategien zu entwickeln. Sie verschafft Ihnen einen Überblick über die Sozialversicherungen und Ihren Leistungsansprüchen. Die Gruppenaufenthalte der MS-Gesellschaft ermöglichen Angehörigen eine Verschnaufpause.
Gemeinsamer Umgang mit MS
Für einen gemeinsamen erfolgreichen Umgang mit MS empfiehlt es sich, folgende Fragen zu klären:
Angehörige: Was bedeutet die MS für mich? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich selber erkrankt wäre? Macht mir die MS Angst? Welche Stärken helfen mir?
Betroffene: Wie geht meine Partnerin, mein Partner mit meiner MS um? Kann ich seine Gefühle nachvollziehen? Empfinde ich die Reaktion als angemessen?
Gemeinsam: Was ist uns in unserer Beziehung wichtig? Hat sich das durch die MS verändert? Hat sich unsere Beziehung verändert? Positiv oder negativ? Was macht uns als Paar stark?
Die MS-Gesellschaft kann Sie dabei unterstützen. MS-Infoline: 0844 674 636
Text: Susanne Kägi, Co-Leitung Beratung & Marc Lutz, Leitung Wissen & Entwicklung