Wie sieht ein normaler Tag bei mir aus?
Um von einem normalen Tag zu erzählen, wähle ich den 8. Mai 2023: Heute ist einer der beiden Tage in der Woche, an denen ich geduscht werde. Genau. Nicht ich dusche, sondern ich werde geduscht. Das ist einer der grössten Unterschiede zwischen meinem heutigen Leben und meinem Leben von früher: Ich bin heute kaum noch selbstständige Akteurin, sondern meistens Empfängerin von Hilfe. Um 8.30 Uhr kommt die liebe Spitex-Mitarbeiterin, die mir an diesem Tag zugeordnet wurde. «Spitex» ist hier bei uns in der Schweiz eine Abkürzung für «spitalexterne Hilfe und Pflege.»
An den anderen Tagen der Woche, an denen ich nicht dusche, hilft mir mein Mann Daniel mit der Morgentoilette – beziehungsweise, wenn er durch seine Arbeit als Pfarrer verhindert ist, kommt eine unserer derzeit vier IV-Assistentinnen (von IV für «Invalidenversicherung»). Am heutigen Morgen aber ist die Spitex-Mitarbeiterin da, und zuallererst kümmert sie sich um mein Wasser (beschönigend für Urin). Ich habe einen sogenannten suprabubischen Katheter; das ist ein Röhrchen, das durch die Bauchdecke direkt in meine Blase geht und so den Urin abfliessen lässt. An dem Röhrchen hängt aussen ein Beutel, der den Urin auffängt. Dieser Katheter ist zwar unangenehm, aber gleichzeitig für mich eine große Entlastung und Befreiung, weil ich damit so viel trinken kann, wie ich will und dringend sollte.
Danach macht die Mitarbeiterin mir eine Blasenspülung. Das soll meine Blase reinigen und vor Infektionen schützen. Wir reden währenddessen über dies und das, tauschen uns aus, was neu ist bei uns; zum Beispiel erzähle ich ihr etwas über das Entstehen des vorliegenden Buches.
Dann hievt sie mich mit Unterstützung von Kinästhetik (einer rückenschonenden Technik) auf den Duschrollstuhl und fährt mich ins Bad zur Dusche. Weniger erfahrenen Pfleger(inne)n bin ich an dieser Stelle auch schon mal «entglitten» und zu Boden gefallen. Das hat mich sehr schockiert, und ich befürchte immer wieder, dass es erneut passiert. Zusammen mit meinem Mann Daniel justiert mich die Spitex-Mitarbeiterin dann auf dem Duschrollstuhl, damit ich möglichst gerade sitze, und ich werde angegurtet. – All dies entspricht nur noch ansatzweise dem Genuss einer Dusche, wie ich es von früher kenne, aber wir benutzen Produkte, deren Duft ich liebe (z. B. von Opium oder Gautier), und das macht es für mich dann trotzdem noch zu einem angenehmen Erlebnis.
In der Dusche ist es sehr heiss, damit ich nicht zu sehr friere. Ich empfinde Temperaturen aufgrund der MS anders. Deshalb wurde ein Heizungsstrahler angebracht, der die engagierte Mitarbeiterin jeweils gewaltig ins Schwitzen bringt. – Übrigens mussten während der Zeit der Pandemie die Spitex-Mitarbeitenden natürlich, auch wenn sie mich duschten, stets eine Maske tragen. Ich selbst durfte sie beim Waschen ausziehen, aber ansonsten blieb sie aufgesetzt. Dann werde ich also geduscht, und meine Haare werden gewaschen. Nach dem Abtrocknen werde ich zurück ins Zimmer gefahren und wieder aufs Bett gelegt. Für mich herrschen nach der warmen Dusche in meinem Zimmer sibirische Temperaturen! Die Mitarbeiterin versorgt und verbindet also routiniert und rasch den Eingang des Katheters neu – das grosse Pflaster ist ja beim Duschen nass geworden. Ich schliesse die Augen, damit ich das Loch in meinem Bauch nicht sehen muss. Der Anblick ekelt mich!
Dann zieht sie mir zunächst die sehr engen Kompressionsstrümpfe an und danach frische Kleider. Mehrere in der Mikrowelle gut gewärmte Kirschkernkissen, und manchmal auch eine Decke über den Schultern, sorgen am Ende dafür, dass ich langsam nicht mehr friere.
Nun ist es etwa 9.30 Uhr. Als Nächstes werde ich in den Elektrorollstuhl gehievt. Mit dem Treppenlift fahre ich ins Erdgeschoss zum Frühstück. (Manchmal bleibt der Treppenlift auch stecken. Einmal musste ich vier Tage lang im ersten Stock bleiben, bis der Lift repariert war!) In unserem Esszimmer hilft mir Daniel dabei, die erste Mahlzeit des Tages einzunehmen. Heute esse ich ein Stück Brot mit Butter; Konfitüre oder Käse drauf wäre mir schon viel zu viel. Dazu trinke ich ein Glas Orangensaft und danach ein Glas Milch sowie täglich eine kalorienreiche Trinknahrung, da ich so untergewichtig bin.
Ich esse allgemein sehr ungern, da ich wegen einer permanenten leichten Übelkeit eigentlich kein Hungergefühl habe. Während des Essens muss ich die sieben Medikamente einnehmen, mit denen ich in den Tag starte: Zum Cocktail gehören zum Beispiel ein Mittel zur Stärkung der Blase, ein Antidepressivum und Stärkungsmittel wie Magnesium und Vitamin B12.
Danach geht es mit dem Treppenlift wieder nach oben. Dort putzt Daniel mir die Zähne und föhnt mir die Haare. Früher hätte ich nie gedacht, dass mein Mann mich einmal hübsch machen müsste, aber es ist zu einer liebevollen Routine geworden, dass er mir oft bei der Frisur, bei Kleidung und Accessoires hilft, die ich bereits am Vorabend ausgewählt habe. Mir ist nämlich mein gutes Aussehen wichtig: Ich mag schöne, farbige Pullis, passende Pulswärmer und Halstücher, manchmal auch eine Kette.
Mein Mann hat für diese Tätigkeiten Zeit, da er seine Stellenprozente im Pfarramt auf 65 Prozent reduzieren konnte. Er übernimmt mittlerweile einen nicht unerheblichen Teil meiner Pflege.
Anschliessend werde ich in mein Zimmer gefahren. Es ist mittlerweile etwa 10.30 Uhr. Die IV-Assistentin trifft ein. Wir haben insgesamt vier IV-Assistentinnen, die wir alle sehr schätzen: Jenny und Priska sowie die «Springerinnen» Marietta und Michaela. Sie bleiben jeweils an vier Tagen der Woche bis am Abend 18 Uhr bei uns, teilweise sind sie auch später am Abend und am Wochenende im Einsatz. Über ein Babyphone kann ich praktischerweise mit ihnen in Kontakt bleiben, auch wenn sie ausserhalb meiner Reichweite Arbeiten im Haus tun. Ich kann mir sicher sein, dass eigentlich immer jemand im Haus ist, falls ich einmal Hilfe brauche, was aber natürlich mit allen Beteiligten organisiert werden muss.
Nun lasse ich mir, wie jeden Tag, von meinem Computer 15 Minuten lang Abschnitte aus der Jahresbibel vorlesen. Ich brauche zwar jemanden, der mir die entsprechende Homepage öffnet, aber das Pausieren der Lesung kann ich selbst vornehmen. Die Lesung aus der Jahresbibel ist für mich täglich wie das zweite, allerdings bekömmlichere Frühstück.
Danach klicke ich die Homepage von Radio SRF 1 an. Sie werden sich fragen, wie ich das mache, da ich ja meine Hände kaum noch benutzen kann. Auf meinem Arbeitstisch befindet sich eine kleine, rutschfeste Matte, auf der drei je 5 Zentimeter grosse farbige Buttons befestigt sind. Über die Schultermuskulatur kann ich den leicht angewinkelten rechten Arm anheben und so steuern, dass ich mit der rechten Hand auf den gewünschten Button schlage. Damit kann ich (meistens) mein geliebtes Radio eigenständig anstellen. Besonders liebe ich bei Radio SRF 1 den «Blick ins Studio», den ich gerne täglich aufrufe. Dort sehe ich die Moderatorinnen und Moderatoren, die ich schon seit Jahren kenne und schätze.
Wenn dann später irgendwann die Türglocke läutet, weiss ich, dass mein Physiotherapeut zu Besuch kommt, der mich zweimal pro Woche kompetent behandelt: Er versucht, die Verkrampfungen meiner Muskulatur in den Armen, im Nacken und in den Beinen zu lösen. Darüber bin ich froh.
Im Anschluss schaue ich eine Fernsehsendung vom Abend zuvor, «10 vor 10», die für meinen Schlafrhythmus zu spät ausgestrahlt wurde. Info-Sendungen zu Politik oder Gesundheit interessieren mich sehr. Was bin ich deshalb dankbar für die heutige Technik! Mediatheken sind praktisch. Oder denken Sie an Liveübertragungen von Gottesdiensten. Ich bin sonntags regelmässig am Bildschirm mit dabei. Jetzt schlägt die Kirchturmuhr schon zwölf. Die IV-Assistentin hat Mittagessen zubereitet. Es gibt Kartoffelauflauf. Wie immer muss ich mich dazu zwingen, ein paar Happen zu essen, wobei mir natürlich wieder jemand helfen muss: entweder mein Mann oder die Assistentin.
Wir haben mittags meistens viele Leute am Tisch: Häufig kommen zwei unserer Söhne, eine oder zwei unserer Schwiegertöchter und dazu die Schwiegereltern von Jonathan, unserem ältesten Sohn. Die Gemeinschaft macht mir grossen Spaß. Es ist jeder bei uns willkommen, der sich rechtzeitig angemeldet hat. (Wenn jemand spontan hinzukommt, finden wir auch immer eine Lösung.) Nach lebhaften Tischgesprächen, bis etwa 13.20 Uhr, geht es wieder in die Horizontale: Ich liege zwanzig bis dreissig Minuten im Bett und versuche mich zu entspannen; dabei höre ich gerne ein wenig Radio.
Übrigens kann ich meine Hausschuhe aus Filz im Bett anlassen! Warum? Weil sie den Boden nie berühren – ein sogenannter «Sekundärgewinn» meiner Krankheit.
Am Nachmittag ist, wenn die Sonne uns entgegenstrahlt und es richtig warm ist, ein kurzer Spaziergang angesagt. Wir – es begleiten mich mein Mann oder die jeweilige Assistentin – machen immer etwa dieselbe Tour: einmal über die Strasse, an Hasen in Käfigen vorbei, die ein Nachbar in seinem Garten hält. Ich empöre mich jedes Mal darüber, dass sie in «Einzelhaft» gehalten werden! Dann geht es über eine kleine Brücke, unter welcher der Bach durchfliesst, bis wir dann an einem Biotop eine kurze Pause einlegen. Wir beobachten, je nach Jahreszeit, Kaulquappen, Frösche oder Libellen. Dann gehen wir an einem Waldstück entlang. Es riecht angenehm erfrischend nach Erde und Laub. Früher habe ich viele Gebetsspaziergänge im Wald gemacht. Das ist natürlich heute nicht mehr möglich; ausserdem ist es mir mittlerweile zu kühl im Wald. Spannend finde ich aber heute noch, dass er in jeder Jahreszeit anders duftet. Nach dem Wald erreichen wir schon wieder ein kleines Wohnviertel. Dort kommen wir auf dem Rückweg an verschiedenen Einfamilienhäusern, Häuserblocks und an einer Miniatur-Brücke vorbei, die am Rand eines schönen Gartens steht. Wir überqueren die Strasse – und bald sind wir wieder zu Hause.
Im Laufe des Nachmittags mache ich meist eine sogenannte «Stille Zeit». Das heisst, ich bete innerlich und intensiv zu Gott, schütte ihm mein Herz aus und bete für meine Familienmitglieder und etliche Menschen aus der Kirchengemeinde. Manchmal bittet mich mein Mann auch, für ein spezielles Anliegen zu beten. Ich empfinde diese Zeit als Privileg und sehe darin auch meine Aufgabe für unsere Kirchgemeinde. Ich wurde einmal gefragt, wie ich mir die vielen Anliegen merke. Die Antwort ist, ich benutze eine spezielle Erinnerungstechnik, bei der mein Körper eine wichtige Rolle spielt: Verschiedene Stellen an ihm verbinde ich mit einem Gebetsanliegen, das mir wieder einfällt, wenn ich in Gedanken zu dieser Stelle komme.
Neben dem Spazierengehen höre ich am Nachmittag auch öfters gerne Hörbücher. Früher, als meine Stimme kräftiger war und ich meine Hände zum Teil auch noch ein wenig benutzen konnte, habe ich mit dem Diktierprogramm Dragon regelmäßig Tagebuch geschrieben. Ich vermisse das sehr!
Und dann gibt es, wie wir Schweizerinnen und Schweizer so schön sagen, «Zvieri»: einen Imbiss am Nachmittag gegen vier Uhr. Schon wieder essen … Aber zum Glück ist es etwas Süsses, das schmeckt mir gewöhnlich doch noch etwas mehr.
Bis um 17 Uhr werden dann verschiedene Dinge, die anstehen, von der jeweiligen Assistentin erledigt: Sie schreibt oder beantwortet zum Beispiel E-Mails, sie tippt für mich meine Rückmeldungen zum Programm von Radio SRF 1, sie sortiert und speichert auf dem PC Fotos für mich, oder sie beantwortet und schreibt Nachrichten auf WhatsApp.
Nach 17 Uhr folgt, mithilfe der Assistentin, die Toiletten-Tour. Wie lange sie geht, ist immer eine Überraschung, denn es kann von 20 Minuten bis zu 1,5 Stunden dauern. Seit mein Darm seine wichtige Aktivität (Peristaltik) zum grössten Teil eingestellt hat, ist es noch komplizierter geworden und für mich äusserst schambehaftet. Die Anzahl der Toiletten-Gänge hat sich mittlerweile mehr als verdoppelt, was für alle Beteiligten aufwendig und unangenehm ist.
Später schaue ich dann Fernsehen, gerne Info- oder Regionalsendungen, und darauf folgt das Abendessen: Meistens esse ich nur ein paar Stücke Käse und trinke dazu zwei grosse Tassen Bouillon. Ich habe schon den ganzen Tag viel getrunken, damit mein Bauchkatheter nicht verstopft, was sehr unangenehme Konsequenzen hätte.
Am Abend schaue ich dann mit meinem Mann oder einer lieben Assistentin die Nachrichten und danach einen schönen Film auf Netflix oder einer DVD. Auch wenn Filme kein Ersatz sind fürs Ausgehen, wozu ich leider nicht mehr fähig bin, erfreuen wir uns an diesem kleinen Stück Normalität. In letzter Zeit hat mir die Serie «Outlander» besonders gut gefallen: Eine ehemalige Militärkrankenschwester wird 1945 in das Jahr 1743 zurückversetzt. Dort lernt sie den schneidigen Highland-Krieger Jamie Fraser kennen, verliebt sich in ihn und erlebt viele Abenteuer. Beim Anschauen dieser Serie tauche ich in eine andere Zeit und Welt ein, was mich zeitweise von meiner Situation ablenkt.
Der Tag neigt sich allmählich dem Ende zu, und ich begebe mich langsam in Richtung Bett. Dazu brauche ich natürlich wieder reichlich Hilfe: beim Hinauffahren in den ersten Stock, beim Anziehen des Pyjamas, beim Zähneputzen, beim letzten Toiletten-Gang des Tages und beim Einnehmen von Medikamenten. Diesmal sind es übrigens sogar achtzehn Stück.
Zwischen 21.50 und 23 Uhr schlafe ich dann schliesslich (erst einmal) ein.
Der nächste Tag kann kommen …