«Und die ist dran gestorben. Ziemlich jung…»

Welt MS Tag

Meine MS ist kein Tabuthema, aber ich erzähle nicht gerne darüber. Eigentlich nur bei den Gelegenheiten, wenn die Leute denken, bei dir ist ja alles rosarot, alles eitel Sonnenschein, immer fröhlich, dir muss es ja blendend gehen.

Dann sage ich, Halt: Es ist nicht ganz so fantastisch, ich habe MS. Es gibt dann drei Arten der Reaktion: Teilweise sind die Leute geschockt und melden sich gar nicht mehr. Ein zweiter Teil grübelt: «Ich kenne auch jemanden, der das hat… Von einem Freund, die Grossmutter. Und die ist dran gestorben. Ziemlich jung.» Dann folgt meist eine Art best-of von nutzlosem Halbwissen. Man meint, mit Experten zu sprechen, die nur äusserst schwer widerlegt werden können. Und auch nicht widerlegt werden wollen. Der letzte Teil sagt: «Dann erklär doch mal». Denn viele wissen gar nicht was MS ist. Ich behaupte, 99% der Menschen haben trotz aller Aufklärung keine Ahnung von MS. Dann schon eher noch von Parkinson.

Einer neuen Bekannten erklärte ich, sie solle sich doch bei Gelegenheit über MS im Internet schlau machen. Sie reagierte ziemlich angesäuert und insistierte: «Stell Dir vor, ich wäre ein 6-jähriges Kind und du müsstest mir MS erklären». Ich gab zurück: «Stell du dir vor, ich möchte mich nicht ständig erklären. Weil ich nicht ständig tief ins Thema hinein kommen will. Ich habe MS und lebe damit, ohne mein Leben der Krankheit unterzuordnen.» Um sie nicht zu verletzen (und die Bekanntschaft aufs Spiel zu setzen), habe ich es schlussendlich doch zu erklären versucht. «Das «M» hat also gar nichts mit «Muskel» zu tun. Na siehst du, hat doch funktioniert», meinte sie glücklich. Ich selbst fühlte mich aber extrem unwohl.

Man wird gezwungen, Dinge zu erklären, die man gar nicht erklären möchte. Das sind Erlebnisse, die immer wieder einen Schatten auf mein Leben werfen.

Oliver R. Lattmann


Lattmann & Luana: ER war selfmade Himmelsstürmer und dirigierte als Aviatik-Manager eine Flotte von Business-Jets, ehe die MS ihm ein temporäres Grounding bescherte. SIE schlug als Jugendliche Belinda Bencic auf dem Tennis-Court, jetzt wehrt sie sich tagtäglich gegen den Versuch der MS, sie in die Knie zu zwingen. Oliver R. Lattmann (55) und Luana Montanaro (28) schreiben aus völlig unterschiedlichen Perspektiven über eine Sache: Ihre MS. Wie und wo sie im Alltag auf Verständnis und Solidarität treffen. Oder auch nicht. Und welche Hindernisse und Tabus ihnen rund um die unheilbare Krankheit MS in der Welt draussen (noch immer) begegnen. Lattmann & Luana sind #MiteinanderStark und unser Autoren-Team für den Welt MS Tag 2021.