«Über raue Pfade gelangt man zu den Sternen»
MS-Geschichten«Wenn Worte überflüssig werden, weil der Augenblick bis an den Rand mit Sinn gefüllt ist, beginnt das Leben unwiderstehlich von sich zu erzählen und führt uns mitten hinein in faszinierende Geschichten - wenn wir nur lauschen.» (Hans Kruppa)
Viele besinnen sich zur Weihnachtszeit, vielleicht auch deswegen, weil sich das Jahr langsam dem Ende zuneigt. Aber warum? Ich gebe der Besinnung das ganze Jahr ihren Platz.
Besinnung = Bewusstsein, ruhige Überlegung, ruhiges Nachdenken, Sich-Besinnen.
Der Ausdruck hat viele Facetten, und wenn ich so nachdenke, dann habe ich durchs Jahr viele solche Momente. Ich könnte jetzt einige Beispiele nennen, möchte jedoch eines davon herauspicken. Einen Moment, welcher mir in diesem speziellen Jahr aufgezeigt hat, dass ganz einfache Dinge so viel Kraft und Energie geben können. Diesen Moment möchte ich aus der Perspektive meiner Begleitung, aber auch aus meiner Perspektive erzählen.
Auch in diesem einzigartigen Moment hat die MS ihren Platz eingenommen. Auf subtile Art, ohne den Augenblick komplett für sich einzunehmen.
Es ist Sonntagmorgen, 6:30 Uhr, aus der Perspektive meiner Begleitung
Da ist nur dein Atmen; sonst Stille. Dunkelheit und Kälte. Windstill ist es. Wir bleiben stehen, und ich sehe dich durch den Nebel deines Atems, der sich zwischen uns schiebt, uns umspielt und sich in Nichts auflöst nur um durch den nächsten Hauch ersetzt zu werden. Beim Weitergehen frage ich mich, ob dein Atem zu schnell geht, ob du Angst im Dunkeln hast, ob wir es vor Sonnenaufgang schaffen werden.
Wir setzen einen Schritt vor den andern und ich spüre nicht nur mich selbst, sondern auch dich. Deine Zufriedenheit umgarnt mich wie ein warmer Wind, mischt sich mit der kalten Luft. Ich atme dich tief ein und spüre Glück. Kalte Finger, warmes Herz. Bist du trittsicher genug?
Deine Krankheit: ich nenne sie «Mehr Spontanität», weil Planen nicht erwünscht ist und mir das gefällt. Ich versuche sie nicht «Mehr Sorgen» zu nennen, weil Sorgen in Glück ertränkt werden können und ich im Moment um Luft ringe, kurz vor dem Ertrinken.
Oben sind die Sterne und ein eiskalter Wind gesellt sich dazu. Der Himmel wird morgenviolett und die Flammen, die ich versuche, gegen den Wind zu entfachen, kämpfen. Wir warten und legen Holz nach. Das Feuer frisst sich lautstark durch das Holz und wir erhaschen die Wärme, bevor sie vom Wind weggetragen wird. Die Stille zwischen uns erfüllt meinen Kopf mit Lärm. Mit «Mehr Spontanität» und «Mehr Sorgen». Du bist so wie du bist und das hat seine guten Gründe. Ich will dich so wie du bist und auch das hat seine guten Gründe.
Der Lärm verstummt und die Sonne drückt sich hinter dem Violett hervor. Sie wird vom Nebel geschluckt, der nach oben und über den Gipfel gezogen wird. Wir stehen da und geniessen. Ich dich - und du den Moment.
Es ist Sonntagmorgen, 5.30 Uhr, aus meiner Perspektive
Was denkst du? Sonnenaufgang über der Nebeldecke? Ich kann dir aber nicht versprechen, ob es klappt. Wir werden 100 Minuten laufen bis zur Aussichtplattform. Ich überlege kurz, mache meinen üblichen morgendlichen Körpercheck und sage: Ja, meine Beine fühlen sich gut an. Lass uns gehen, egal ob wir den Sonnenaufgang sehen oder nicht. Wir laufen los. Die Stirnlampe an. Kaum Sicht durch den dicken Nebel. Sehe den Weg halbwegs und doch fühlt sich jeder Schritt sicher an.
Mein Atem wird schneller, und doch bleibe ich ruhig, konzentriere mich auf meine Beine, mache jeden Schritt bewusst. Je höher wir steigen desto dünner wird der Nebel, die Sicht wird klarer. Aber auch die Kraft in meinen Beinen schwindet langsam. Ich halte kurz an, nehme tief Luft. Mein Atem beruhigt sich und ich mobilisiere meine Reserven. Ich fühle mich gut - ich will da hoch. Geniesse die ruhigen Momente zwischen uns. In meinem Kopf? Viele Gedanken und doch keine greifbaren. Ich bin komplett im Bewusstsein, bin komplett bei mir, bin komplett bei uns.
Oben angekommen, fängst du sofort an Feuer zu entfachen. Ich weiss, du willst nicht, dass ich friere. Ich schaue die Nebeldecke unterhalb an, und ganz langsam beginnt ein Naturspektakel, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Sonne zeigt sich.
Ich schaue dem Farbenspiel zu, besinne mich. Lasse das spezielle Jahr Revue passieren. Schaue dich an und bin dankbar. Danke, dass du mich mitgenommen hast. Danke, für diesen unvergesslichen Moment. Du nimmst mich in den Arm und die Kälte hat keine Wichtigkeit mehr. Obwohl mein Körper völlig erschöpft ist, erfüllt meine Seele Dankbarkeit und Hochgefühl.
Das Erwachen eines neuen Tages umhüllt uns. Besinnung ist unerwartet, aber allgegenwärtig.
Ich wünsche euch ganz viele besinnliche Momente - das ganze Jahr hindurch.
Sonia