Wissenschaftlich etablierte Risikofaktoren für MS
Während die Ursachen der MS noch nicht vollständig geklärt sind, wurden genetische und umweltbedingte Risikofaktoren in der Forschung systematisch mit der MS in Verbindung gebracht. Für genetische Faktoren spricht hauptsächlich die Beobachtung, dass die MS familiär gehäuft auftritt, wobei bestimmte Gene im Mittelpunkt des Interesses stehen. Zu den wissenschaftlich etablierten Umweltfaktoren gehören Rauchen, ein niedriger Vitamin-D-Spiegel, geringe Sonnenexposition und eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV).
Die Studie: MS-Theorien von Betroffenen
Um die Forschung um die Perspektive von Betroffenen zu erweitern, führte das Schweizer MS Register im Rahmen eines grossen Projekts zu Risikofaktoren der MS eine Umfrage zu den Theorien der Betroffenen durch. Dabei konnten die Befragten in Textfeldern ihre Eindrücke zur Entstehung ihrer MS in eigenen Worten schildern. Es ist das erste Mal, dass Betroffene sich bei der Erforschung der Ursachen ihrer MS-Erkrankung direkt äussern konnten. Die Umfrage begann im Jahr 2020 und wurde Anfang 2023 abgeschlossen. Die Betroffenen wurden gebeten, ihre persönlichen Annahmen und Eindrücke über die Entstehung ihrer MS zu beschreiben und mögliche spezifische Risikofaktoren zu benennen, die sie für relevant halten. Sie wurden auch gebeten, ihre Theorien zu begründen.
Psychische und körperliche Gesundheit, etablierte Faktoren und Schicksal
Die Theorien der MS-Betroffenen gingen über die in der Forschung etablierten Risikofaktoren hinaus. Eine Textanalyse ergab 19 verschiedene Themen, die Betroffene als ursächlich für ihre MS ansahen. Die am häufigsten genannten Themen waren «psychische Belastung» (32%), «Stress (Erschöpfung, Arbeit)» (30%), «Vererbung/familiäre Häufung» (27%) und «Ernährung, Übergewicht» (16%). Diese 19 Themen lassen sich vier übergeordneten Kategorien zuordnen: «körperliche Gesundheit» (von 56% aller Teilnehmer genannt), «psychische Gesundheit» (von 54% genannt), in der wissenschaftlichen Literatur etablierte Risikofaktoren (Genetik, Epstein-Barr-Virus, Rauchen, Vitamin-D-Mangel/geringe Sonnenexposition; von 48% genannt) und «Schicksal/Zufall» (von 3% genannt).
Psychische Gesundheit: Eine wenig erforschte Einflusskomponente
Etwa 54% der Betroffenen nannten psychische Belastung, Stress, Beziehungs-/Familienprobleme und negative Kindheitserfahrungen als potenzielle Risikofaktoren für ihre MS. In einigen Fällen wurden auch traumatische Ereignisse als mögliche Ursache genannt. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass die psychische Gesundheit sowie damit verbundene Lebenserfahrungen aus Sicht Betroffener von grosser Bedeutung für die Entwicklung ihrer MS sind.
In Übereinstimmung mit den Theorien der Betroffenen haben wissenschaftliche Studien ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen mit traumatischen Stressereignissen in Verbindung gebracht. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen einer beeinträchtigten Immunfunktion und psychischen Belastungen sowie Stress. Letztere können sich auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche beziehen, wie z.B. Arbeit, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, akute Lebenskrisen oder eine Kombination dieser Faktoren. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass psychische Belastung und Stress nicht nur langfristige, sondern auch unmittelbare Auswirkungen haben können – wie einen MS-Schub.
Was bedeuten diese Ergebnisse für die Versorgung von MS-Betroffenen?
Unsere Studie zeigt das grosse Spektrum an potenziellen Ursachen für MS aus Sicht Betroffener – wie beispielsweise die psychische Gesundheit. Dies ist eine wichtige Information, da sich die Gesundheitsversorgung von Menschen mit MS derzeit stark auf Behandlungen konzentriert, die auf körperliche Symptome und Entzündungen abzielen. Während diese Ansätze für die Verlangsamung des Fortschreitens der Krankheit von Bedeutung sind, zeigen die Ergebnisse unserer Umfrage, dass es einen ungedeckten Bedarf an Forschung gibt, der das gesamte Spektrum der von den Betroffenen genannten Faktoren umfassend untersucht.
Ein verstärkter Fokus in der MS-Behandlung auf den Umgang mit psychischen Belastungen und Stress im Alltag könnte Betroffene dabei unterstützen, Strategien zu erlernen, um besser damit umgehen zu können. Gleichzeitig besteht bei den Betroffenen ein grosser Informationsbedarf hinsichtlich der wissenschaftlichen Befundlage zu Risikofaktoren jenseits der etablierten Risikofaktoren (wie z. B. Epstein-Barr-Virus).
///Christina Haag ist seit Mitte 2020 Postdoktorandin beim Schweizer MS Register. Mit ihrer Forschung möchte sie einen Beitrag zum psychischen Wohlbefinden von MS-Betroffenen leisten.
Das Schweizer MS Register wurde von der Schweiz. MS-Gesellschaft auf Wunsch von Betroffenen initiiert, um ihre Perspektive in die Forschung einzubringen. Ausgeführt wird das Forschungsprojekt von der Universität Zürich. Gemeinsam mit MS-Betroffenen untersuchen Forschende verschiedene Fragestellungen, stets mit dem Ziel, zu einer Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit MS beizutragen.