Sich regen bringt Segen: körperliche Aktivität und Fatigue

Freitag, 22. Juli 2022

Ältere MS-Betroffene erinnern sich noch: früher wurde ihnen von anstrengender körperlicher oder sportlicher Tätigkeit abgeraten. Dies wurde ähnlich betrachtet wie bei Infekten oder anderen energiezehrenden Krankheiten. Diese Betrachtungsweise hat sich inzwischen geändert. «Sich regen bringt Segen» – dieses Sprichwort gilt heute auch für Betroffene mit MS.

Dennoch sind verschiedene Fragen offen gebliebenen: wie verträgt sich anstrengende körperliche oder sportliche Tätigkeit mit Fatigue? Schliessen sich diese nicht aus? Schliesslich ist es ja so, dass die Müdigkeit aufgrund von körperlichen Anstrengungen zunehmen kann. Und umgekehrt ist die Fatigue eine Hürde für jegliche Betätigungen, eben auch körperliche.

In diesem Monatsbeitrag werfen wir einen Blick auf diesen Widerspruch. Wir nutzen einerseits Informationen aus der MS-Symptomliste, in der «Müdigkeit, Fatigue» eines der MS-Symptome ist und anderseits ziehen wir Informationen aus der Ernährungsbefragung hinzu, in der die Fatigue mit der «Modified Fatigue Impact Scale» (MFIS-Skala) erfasst wird. Ein eigenes Kapitel behandelte in der Ernährungsbefragung zudem die körperlichen Aktivitäten.

Wieviel körperliche Aktivität und wie wird sie empfunden?

Zunächst wollten wir wissen:

«An wie vielen Tagen der letzten Woche waren Sie insgesamt 30 Minuten oder länger körperlich aktiv, so dass Sie zumindest etwas stärker atmen mussten? » (ohne Aktivitäten im Haushalt oder bei der Arbeit)

Drei von vier Teilnehmenden gaben an, mindestens an zwei Tagen eine anstrengende Aktivität ausgeübt zu haben. Wer aktiv sein kann, ist dies in der Regel auch! Die beliebtesten Aktivitäten sind Wandern/Walken/Spazieren, Velo fahren, Home-Trainer, bei den Frauen auch Tanzen und Yoga. Daneben wird eine Vielzahl unterschiedlicher Sport- und Freizeitaktivitäten genannt. Über zwei Drittel der Teilnehmenden gaben zwei oder mehr unterschiedliche Aktivitäten an.

Körperliche Aktivität

Anschliessend wollten wir wissen, wie sich die körperlichen Aktivitäten auf das Wohlbefinden auswirken. Die Ergebnisse sind überaus deutlich: unter den körperlich Aktiven sind es 85%, die sich danach besser fühlen, 10% sehen keinen Unterschied und 5% fühlen sich schlechter. Unter den Kommentaren zu diesem Thema bemerken viele, dass nach einer Aktivität sich Müdigkeit oder Schmerzen einstellen, jedoch nach einer gewissen Zeit wieder abklingen. Ebenfalls häufig sind Hinweise, dass die Aktivität dosiert und an die eigene Situation angepasst wird. Manche streichen heraus, dass vor allem das psychische Wohlbefinden profitiert, und einzelne Teilnehmende schreiben, dass ihnen die Bewegung wegen der MS noch wichtiger geworden ist.

Ein erster Blick: Müdigkeit und körperliche Aktivität hängen zusammen

Nun zur Müdigkeit und Fatigue ... In der wiederholt abgefragten MS-Symptomliste ist Müdigkeit / Fatigue ein prominentes Symptom. Die meisten MS-Betroffenen (knapp 80%) kreuzen es früher oder später an – manche als Erstsymptom zu Beginn der Krankheit und manche als Verlaufssymptom danach. Wenig überraschend sind bei diesen Betroffenen auch die Müdigkeitswerte in der MFIS-Skala deutlich erhöht.

Die Beziehung zwischen Müdigkeit / Fatigue und körperlicher Aktivität ist zumindest auf den ersten Blick eindeutig. Wer unter Müdigkeit leidet, hat weniger Reserven und weniger Lust für anstrengende Aktivitäten. Die Zusammenhänge in unseren Daten zeigen anscheinend alle in dieselbe Richtung. Je intensiver die Müdigkeit ist, desto

weniger anstrengende Aktivitäten werden ausgeübt;
weniger Wohlbefinden nach einer Aktivität entsteht;
weniger unterschiedliche Aktivitäten werden gewählt.

Ein zweiter Blick: keine Unterschiede mit oder ohne Fatigue-Symptome

So einfach ist es jedoch nicht - wir werfen einen zweiten Blick aufs Thema! Wir machen dabei einen Vergleich zwischen MS-Betroffenen mit und ohne Müdigkeit / Fatigue gemäss MS-Symptomliste. Auch Betroffene «ohne» berichten natürlich über ein gewisses Mass an Müdigkeit auf der MFIS-Skala, einfach auf einem deutlich tieferen Niveau als jene «mit». Was passiert nun bei den einen und bei den anderen, wenn sie das Mass der körperlichen Aktivität im Verlauf der MS ändern? Wir haben gefragt:

«Haben Sie aufgrund der MS-Erkrankung im Bereich körperliche Aktivität / Sport etwas verändert? »

Änderung körperliche Aktivität

Abbildung 2 zeigt, dass Aktivität den Müdigkeitscore senkt.

Wer über weniger körperliche Aktivität im Zuge der MS-Erkrankung berichtete, hatte gemäss MFIS-Skala auch erhöhte Müdigkeitswerte. Wer die körperlichen Aktivitäten beibehielt oder steigerte, gab tiefere Müdigkeitswerte auf der MFIS-Skala an. Überraschenderweise gilt dies in gleicher Art und Weise für Betroffene mit wie auch für jene ohne Müdigkeit / Fatigue gemäss MS-Symptomliste. Dies hatten wir so nicht erwartet: dasselbe Bild, einfach auf unterschiedlichen Niveaus. Die Schlussfolgerung ist demnach für beide Gruppen die gleiche: körperliche Aktivitäten trotz MS beizubehalten, bedeutet tiefere Müdigkeitswerte. Wir können zwar nicht eindeutig aufzeigen, dass dieser Zusammenhang kausal ist. Die Tatsache jedoch, dass wir ihn bei beiden Gruppen feststellen, lässt aufhorchen.

Ein dritter Blick: wie viel körperliche Aktivität ist optimal

Unmittelbar drängt sich auch schon die nächste Frage auf: wie viel Aktivität ist optimal? Eine Antwort findet sich hier anhand der Anzahl körperlicher Aktivitäten pro Woche, die wir oben schon angeschaut haben. Die Antworten unterscheiden sich leicht bei Betroffenen mit und ohne Müdigkeit / Fatigue gemäss MS-Symptomliste: bei Betroffenen «mit»sind 2-3 Aktivitäten pro Woche optimal, danach verändern sich die Müdigkeitswerte auf der MFIS-Skala nicht mehr. Bei Betroffenen «ohne» drückt schon eine einzige Aktivität die MFIS-Müdigkeitswerte stabil hinunter (Abbildung 2).

Sich regen bringt Segen, heisst ein bekanntes Sprichwort – in mehreren kleineren Einheiten (wer Müdigkeit / Fatigue als MS-Symptom wahrnimmt) oder mindestens einmal pro Woche (wer ohne Müdigkeit / Fatigue ist). Hauptsache ist, dass die körperliche Aktivität guttut, Freude macht und den eigenen Voraussetzungen Rechnung trägt.

Bei der Schweiz. MS-Gesellschaft finden Sie ein breites Veranstaltungsangebot. Mitmachen bringt Spass und lohnt sich!

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