Schlechte Regeneration des Myelin lässt Rückschlüsse auf Krankheitsprogression zu

ECTRIMS

Neue Forschungserkenntnisse deuten darauf hin, dass die Remyelinisierung – also die Regeneration der Myelinscheide – bei Menschen, die MS zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben entwickeln, weniger effektiv sein könnte.

Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen mit spät beginnender MS (LOMS; von englisch «late-onset MS»), bei denen die Krankheit nach dem 50. Lebensjahr auftritt, signifikant weniger Oligodendrozyten (Myelin-bildende Zellen) aufweisen als Betroffene mit typischem Krankheitsbeginn im früheren  Erwachsenenalter.

Die geringere Anzahl von Oligodendrozyten korreliert bei LOMS-Betroffenen mit einer schwereren Behinderung und könnte «den progredienten Krankheitsverlauf und hohen Behinderungsgrad bei diesen Personen teilweise erklären», so Lidia Stork von der Universitätsmedizin Göttingen in einem Vortrag am Kongress des Europäischen Komitees für die Behandlung und Forschung bei Multipler Sklerose (ECTRIMS).

Studien deuten darauf hin, dass der Zeitpunkt des Krankheitsbeginns Einfluss auf den gesamten Krankheitsverlauf haben kann. So ist es zum Beispiel bei LOMS-Betroffenen dreimal wahrscheinlicher, dass sie zu MS-Beginn einen progredienten Krankheitsverlauf zeigen, bei dem sich die Symptome unabhängig von Krankheitsschüben im Lauf der Zeit progressiv verschlimmern.

Diese Personen scheinen auch eine schnellere Krankheitsprogression zu erleben, sich schlechter von Schüben zu erholen und schlechter auf krankheitsmodifizierende Therapien anzusprechen als Betroffene mit typischem Krankheitsbeginn im Alter zwischen 20 und 40 Jahren.

Welche Faktoren spielen eine Rolle?

Für Forscher ist es von grossem Interesse, besser zu verstehen, welche Faktoren zu einer schwerwiegenderen Krankheitsprogression beitragen. Die Myelinscheide ist eine fetthaltige Hülle, die zur beschleunigten Weiterleitung von elektrischen Signalen in Nervenfasern beiträgt. Wenn Myelin verloren geht – ein Prozess, der als Demyelinisierung bezeichnet wird – sind Nervenzellen anfälliger für Schäden und die Signalweiterleitung in den Nerven verlangsamt sich. Schliesslich häufen sich im Gehirn und Rückenmark Läsionen und Bereiche, in denen das Gewebe geschädigt oder vernarbt ist.

Geschädigtes Myelin kann von Oligodendrozyten in gewissem Umfang repariert bzw. regeneriert werden. Bei Menschen mit typischem MS-Beginn ist dies bei 23–50?% der Läsionen der Fall. Der Grad der Remyelinisierung hat Einfluss auf den Krankheitsverlauf, wobei eine stärkere Remyelinisierung mit einer geringeren Anzahl an Schüben und einer langsameren Krankheitsprogression in Zusammenhang steht.

Hat eine beeinträchtigte Remyelinisierung einen schwereren Krankheitsverlauf zur Folge?

Stork und ihr Team haben untersucht, ob ein geringerer Remyelinisierungsgrad den schwereren Krankheitsverlauf, der bei LOMS-Betroffenen häufig beobachtet wird, erklären könnte.

Das Forschungsteam hat bei 30 LOMS-Betroffenen und 25 MS-Betroffenen mit typischem Krankheitsbeginn mittels Biopsie Gewebeproben entnommen und diese auf Marker für Oligodendrozyten untersucht. Es wurden insbesondere drei Zelltypen untersucht:

  • unreife Oligodendrozyten-Vorläuferzellen,
  • reife Oligodendrozyten, die aktiv an der Myelinisierung beteiligt sind,
  • und reife Oligodendrozyten, die nicht aktiv an der Myelinisierung beteiligt sind.

Im Vergleich zu Betroffenen mit typischem Krankheitsbeginn wiesen LOMS-Betroffene eine signifikant geringere Dichte an reifen Oligodendrozyten in gesundem myelinisiertem Gewebe – auch weisse Substanz genannt – und im Gewebe rund um Läsionen auf. Ebenso waren die aktiv myelinisierenden Oligodendrozyten in der weissen Substanz von LOMS-Betroffenen reduziert.

Interessanterweise stand die Zahl der reifen und aktiv myelinisierenden Zellen in negativer Korrelation zum Alter der Personen. Das heisst, dass die Zahl der Oligodendrozyten abgenommen hat, je älter die Patienten waren.

Die Forscher untersuchten auch die Menge an aktiv myelinisierenden Zellen in frischen und älteren Läsionen. In frischen, aktiven Läsionen kamen die Zellen der verschiedenen Gruppen ähnlich häufig vor, während Menschen mit LOMS in älteren Läsionen weniger aktiv myelinisierende Oligodendrozyten im Zentrum der Läsion zeigten, so Stork.

Bei der letzten Kontrolluntersuchung erreichten LOMS-Betroffene einen signifikant höheren Wert auf der Expanded Disability Status Scale (EDSS) als Betroffene mit typischem Krankheitsbeginn, was einem höheren Behinderungsgrad entspricht. Die höheren EDSS-Werte standen in Korrelation mit einer geringeren Zahl an reifen Oligodendrozyten und Oligodendrozyten-Vorläuferzellen in aktiven Läsionen bei LOMS-Betroffenen. In der Kontrollgruppe war diese Korrelation jedoch nicht zu beobachten.

«Der Rückgang der Oligodendrozyten könnte bei Patienten mit spät beginnender MS die Wirksamkeit des reparativen Prozesses, insbesondere die Remyelinisierung, beeinflussen», sagte Stork und merkte an, dass dieser Faktor dazu beitragen könnte, dass diese Personen eine stärkere Behinderungsprogression erleben.

«Es braucht also Therapieansätze zur Verbesserung der Remyelinisierung», erklären die Forscher.

Diese Ergebnisse wurden im Rahmen von «ECTRIMS 2022» vorgestellt. Der MS-Kongress fand vom 26. bis 28. Oktober 2022 virtuell und live in Amsterdam statt.

Quelle: Multiple Sclerosis News Today, #ECTRIMS2022 – Poor Myelin Repair Offers Clues in Disease Progression, von Lindsay Shapiro, PhD, 27. Oktober 2022