Nicht in Stein gemeisselt: Wie der MS-Betroffene Henry spät seine Liebe zur Bildhauerei fand

MS-Geschichten

Zwischen Rosemarie und Henry passt vermutlich kein Blatt Papier. Seit 52 Jahren verheiratet, haben sie in der Vergangenheit zusammen eine Firma mit 30 Mitarbeitenden aufgebaut und geführt. Sie ist auch die Frau, die in allen Phasen seiner MS-Betroffenheit an seiner Seite war und ist.

Die Diagnose MS erhielt der heute anfangs 70-Jährige bereits 1987. Mit fortschreitender Erkrankung verschlechterte sich Henrys Gesundheit. Rosemarie musste miterleben, wie Henry zusehends schwächer wurde und auch für andere Krankheiten anfällig. «Mein Mann war praktisch dauerkrank mit Grippe», sagt sie rückblickend. Kam dazu, dass er zwischenzeitlich nur noch im Rollstuhl mobil war, was dem Allgemeinzustand abträglich war und vor allem seine Muskulatur zusätzlich schwächte.

Hilfe kam wie oft von unerwarteter Seite. Vor 7 Jahren lernte Henry einen Bildhauer mit eigener Werkstatt kennen. Mit seiner Unterstützung begann Henry, Steine zu behauen. Eine deutliche Verbesserung der Oberkörpermuskulatur war das Resultat. Wo anfänglich das Halten von Hammer und Meissel kaum möglich war, kann Henry heute stundenlang einen Steinblock bearbeiten und seine Kreativität mit notwendiger körperlicher Aktivität erfüllend verbinden. Ausstellungen seiner Arbeiten zeigen, wie Henry trotz des Handicaps seinen Schaffensdrang mit Freude und Erfolg umzusetzen weiss.

Albin Hollenstein, Fotograf mit den Schwerpunkten Reportage‐, Architektur‐, Natur‐ und Sportfotografie, war von Henrys Elan und Zufriedenheit beeindruckt. Er besuchte ihn bei seiner Arbeit als Steinbildhauer und hat ihn porträtiert. Mit sechs Bildern aus seiner «Henry-Serie» bewarb er sich für die photoSCHWEIZ, die grösste Schweizer Werkschau für Fotografie. Er wurde als einer von 250 nationalen und internationalen Fotografen angenommen. Von 10. Bis 14. Januar 2020 waren die Fotos in der Halle 622 in Zürich-Oerlikon ausgestellt (mehr über ihn und sein Portfolio auf www.albinhollenstein.com).

Ende gut, alles gut? Ja, aber ein Hindernis gab es, ganz zu Anfang von Henrys Bildhauer-Karriere, dann doch zu überwinden. Der Bildhauer, der Henry in die Leidenschaften und Leiden der Steinbearbeitung einführte («Eigentlich bin ich sein Caddy»), der ihm als «Vorarbeiter» das Material bereit stellt und im Winter schon mal das metallene Werkzeug vorwärmt, hatte eine Bedingung: Henry durfte nur alleine ins Atelier kommen. Also ohne Rosemarie. Für die war das zunächst ein echtes Problem, eine Mixtur aus Eifersucht und nicht loslassen können, heute etwas zum drüber lachen, was verblasst ist.

Nachdem sie Henry «abgeliefert» hat, macht sie seit langem ihr eigenes kulturelles Ding oder gönnt sich Auszeiten in der Natur. Kein Wunder. Wenn schon kein Blatt Papier zwischen die beiden passt, wie sollten es dann Marmorblöcke schaffen?