Forscher haben zahllose DNA-Proben von Menschen mit MS untersucht, um herauszufinden, welche Gene an der Krankheitsentwicklung beteiligt sein können. Diese Gene werden auch als MS-Risikogene bezeichnet. Nahezu alle identifizierten Gene tragen dazu bei, dass das Immunsystem ordnungsgemäss funktioniert. Viele der Risikogene sind jedoch sehr ähnlich oder sogar identisch wie bei Angehörigen, die keine MS haben. Die Gene allein können also nicht an der Erkrankung schuld sein. Wissenschaftler vertreten die These, dass MS durch vererbte Gendefekte in Kombination mit einem unbekannten Faktor ausserhalb der Gene hervorgerufen werden könnte. Um also die Frage zu beantworten: MS ist keine genetische Erkrankung im engeren Sinne.
Epigenetik – die Wechselwirkungen zwischen Genen, externen Einflüssen und Lebensführung
Derzeit lautet die gängige Theorie, dass MS entsteht, wenn Schäden an mehreren MS-Risikogenen mit Umgebungs- und Verhaltensfaktoren zusammentreffen, die die Aktivität dieser Gene beeinflussen. Mit diesem Ansatz liesse sich möglicherweise erklären, warum manche Menschen nicht an MS erkranken, die zwar die Risikogene haben, aber keinen MS-fördernden Faktoren ausgesetzt sind. Eine Forschungsdisziplin, die sich mit diesem Phänomen beschäftigt, ist die Epigenetik. Das Wort Epigenetik enthält die griechische Vorsilbe Epi-, die soviel bedeutet wie «auf» oder «ausserhalb von». Im Gegensatz zur Genetik sind der Gegenstand der Forschung hier nicht die Veränderungen der Gene und ihre Weitergabe selbst, sondern die Faktoren, die darauf einwirken, wie der Körper damit umgeht.
Um das Konzept der Epigenetik zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass alle Zellen eines Körpers die gleichen Gene enthalten. Dennoch verhalten sich die Zellen unterschiedlich, je nachdem, zu welchem Zelltyp oder Organ sie gehören. So wird zum Beispiel eine Zelle im Herzen in der Regel nicht plötzlich Insulin produzieren, obwohl sie genauso wie die Zellen der Bauchspeicheldrüse das Gen mit dem Bauplan für Insulin enthält. Epigenetische Faktoren sind Bestandteil der Mechanismen, die die Aktivität der Gene in spezifischen Zellen zu spezifischen Zeiten steuern, indem die DNA mit unterschiedlichen Signalen markieren. Diese Signale informieren die Zelle, welche Gene ein- oder ausgeschaltet werden sollen.
MS-fördernde Umgebungs- und Verhaltensfaktoren
Immer mehr Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Epigenetik deuten darauf hin, dass MS bei Trägern von Risikogenen dann ausbricht, wenn bestimmte Faktoren in der Umgebung und Lebensführung vorliegen. Diese Faktoren beeinflussen über epigenetische Wege die Aktivität der MS-Risikogene. Rauchen zum Beispiel ist ein bekannter Risikofaktor für MS, der die epigenetische Markierung vieler Gene verändert (Abbildung 3).