Neue Spuren zur Entstehung von MS

Fachartikel

 

Neueste Entdeckungen deuten darauf hin, dass bestimmte Umgebungsfaktoren und Lebensgewohnheiten direkte Einwirkung auf die an MS beteiligten Gene haben können.

Was sagen Wissenschaftler zur Entstehung von MS?

Bei Multipler Sklerose (MS) wird das Myelin, das eine Isolationsschicht um die Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark bildet, vom Immunsystem angegriffen. Wie es zu diesen Angriffen durch die körpereigenen Abwehrkräfte kommt, ist zwar nicht im Detail geklärt, doch die Wissenschaft geht davon aus, dass es eine ungünstige Kombination aus Umgebungs-, Verhaltens- und genetischen Faktoren ist, die zu MS führt.

Genetische Schäden können zu Erkrankung führen

Der Ursprung vieler Krankheiten liegt unmittelbar in den Genen, mit denen wir geboren werden. Ein Gen ist jeweils ein Abschnitt der DNA, der die notwendigen Informationen für eine bestimmte Aufgabe innerhalb der Körperzellen enthält (Abbildung 1). Wenn beispielsweise ein bestimmtes Gen in Zellen der Bauchspeicheldrüse aktiviert wird, führt das zur Produktion von Insulin, das den Blutzuckerspiegel reguliert.

An der DNA können Schäden entstehen, und wenn diese Schäden nicht repariert werden, können verschiedene Krankheiten auftreten. Eine solche auf einem Gendefekt beruhende Krankheit wird als genetische Erkrankung bezeichnet, und die betroffene Person kann sie an ihre Kinder weitervererben. Die Ursache von Chorea Huntington beispielsweise ist ein einzelnes vererbtes defektes Gen. Das nach der fehlerhaften Bauanleitung dieses Gens gebildete Protein ist für bestimmte Gehirnzellen schädlich. Man kann das Risiko einer Person berechnen, an Chorea Huntington zu erkranken, wenn man weiss, ob enge Vorfahren die Krankheit hatten (Abbildung 2). Die Wissenschaft von den Genen und der Vererbung wird als Genetik bezeichnet.

Ist MS also eine genetische Erkrankung?

Wenn ein Verwandter ersten Grades (Eltern oder Geschwister) MS hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit, selbst an MS zu erkranken, 1–3 %. Das zeugt davon, dass MS eine genetische Komponente hat. Im Gegensatz zu Huntington kann man jedoch nicht anhand der Familiengeschichte einer einzelnen Person deren MS-Risiko errechnen (Abbildung 2). Das verrät uns, dass an der Entstehung von MS mehrere Faktoren beteiligt sein müssen.

Forscher haben zahllose DNA-Proben von Menschen mit MS untersucht, um herauszufinden, welche Gene an der Krankheitsentwicklung beteiligt sein können. Diese Gene werden auch als MS-Risikogene bezeichnet. Nahezu alle identifizierten Gene tragen dazu bei, dass das Immunsystem ordnungsgemäss funktioniert. Viele der Risikogene sind jedoch sehr ähnlich oder sogar identisch wie bei Angehörigen, die keine MS haben. Die Gene allein können also nicht an der Erkrankung schuld sein. Wissenschaftler vertreten die These, dass MS durch vererbte Gendefekte in Kombination mit einem unbekannten Faktor ausserhalb der Gene hervorgerufen werden könnte. Um also die Frage zu beantworten: MS ist keine genetische Erkrankung im engeren Sinne.

Epigenetik – die Wechselwirkungen zwischen Genen, externen Einflüssen und Lebensführung

Derzeit lautet die gängige Theorie, dass MS entsteht, wenn Schäden an mehreren MS-Risikogenen mit Umgebungs- und Verhaltensfaktoren zusammentreffen, die die Aktivität dieser Gene beeinflussen. Mit diesem Ansatz liesse sich möglicherweise erklären, warum manche Menschen nicht an MS erkranken, die zwar die Risikogene haben, aber keinen MS-fördernden Faktoren ausgesetzt sind. Eine Forschungsdisziplin, die sich mit diesem Phänomen beschäftigt, ist die Epigenetik. Das Wort Epigenetik enthält die griechische Vorsilbe Epi-, die soviel bedeutet wie «auf» oder «ausserhalb von». Im Gegensatz zur Genetik sind der Gegenstand der Forschung hier nicht die Veränderungen der Gene und ihre Weitergabe selbst, sondern die Faktoren, die darauf einwirken, wie der Körper damit umgeht.

Um das Konzept der Epigenetik zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass alle Zellen eines Körpers die gleichen Gene enthalten. Dennoch verhalten sich die Zellen unterschiedlich, je nachdem, zu welchem Zelltyp oder Organ sie gehören. So wird zum Beispiel eine Zelle im Herzen in der Regel nicht plötzlich Insulin produzieren, obwohl sie genauso wie die Zellen der Bauchspeicheldrüse das Gen mit dem Bauplan für Insulin enthält. Epigenetische Faktoren sind Bestandteil der Mechanismen, die die Aktivität der Gene in spezifischen Zellen zu spezifischen Zeiten steuern, indem die DNA mit unterschiedlichen Signalen markieren. Diese Signale informieren die Zelle, welche Gene ein- oder ausgeschaltet werden sollen.

MS-fördernde Umgebungs- und Verhaltensfaktoren

Immer mehr Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Epigenetik deuten darauf hin, dass MS bei Trägern von Risikogenen dann ausbricht, wenn bestimmte Faktoren in der Umgebung und Lebensführung vorliegen. Diese Faktoren beeinflussen über epigenetische Wege die Aktivität der MS-Risikogene. Rauchen zum Beispiel ist ein bekannter Risikofaktor für MS, der die epigenetische Markierung vieler Gene verändert (Abbildung 3).

Reduktion der MS-Symptomatik

MS ist ein komplexes Thema, da so viele Gene beteiligt sind und viele äussere Faktoren und Verhaltensweisen bekannt sind, die die Krankheit beeinflussen – von Sonnenlicht über Rauchen und Ernährung bis hin zu einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus. Derzeit liegt die Herausforderung darin, alle Gene zu identifizieren, die für MS eine Rolle spielen, und herauszufinden, welche Umgebungs- und Verhaltensfaktoren die Risikogene beeinflussen, welche epigenetischen Markierungen diese Gene tragen und wie man diese Informationen nutzen kann, um MS zu verhindern und zu behandeln.

Ärzte raten dazu, das Rauchen aufzugeben, sich gesund zu ernähren und sich vor Stress im Alltag zu schützen. Mit dem Rauchen aufzuhören kann sich sogar doppelt positiv auswirken. Es kann die unerwünschte Markierung von MS-Risikogenen verringern und zugleich die allgemeine Entzündungsaktivität verringern, was bekanntermassen MS-Schübe reduziert. Man nimmt ausserdem an, dass auch Stress die epigenetischen Mechanismen im Körper beeinflusst. Stress zu reduzieren und nicht mehr zu rauchen kann schwerfallen, erhöht aber die Lebensqualität.

Dr. Lutz Achtnichts

Literatur

1. Hedstrom et al. Tobacco smoking, but not Swedish snuff use, increases the risk of multiple sclerosis. Neurology. 2009;73:696–701.
2. Küçükali et al. Epigenetics of multiple sclerosis: an updated review. Neuromolecular Med. 2015; Jun;17(2):83-96.
3. Andlauer et. al. Novel multiple sclerosis susceptibility loci implicated in epigenetic regulation. Science Advances. 2016,2(6), e1501678.