Neue Erkenntnisse zum Epstein-Barr-Virus bei MS – Weitere Schritte in der Forschung müssen folgen

Fachartikel

Eine neue Studie, die in der Fachzeitschrift «Science» veröffentlicht wurde, konnte den Zusammenhang zwischen dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und MS aufzeigen. Lesen Sie hier eine Stellungnahme des Medizinisch-wissenschaftlichen Beirats der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft.

Die epidemiologische Studie von Bjornevik/Ascherio (Harvard, USA), zu der auch der Schweizer MS-Spezialist Prof. Dr. Jens Kuhle, Leiter des Wissenschaftlichen Fördergremiums der Schweiz. MS-Gesellschaft, beigetragen hat, liefert wichtige Resultate zur Beurteilung der Kausalität einer EBV-Infektion und dem Auftreten von MS. Aber was verstehen Forschende unter Kausalität? Die Kausalität beschreibt, ob ein Risikofaktor in der Entstehung einer Krankheit als (Mit-) Ursache eine Rolle spielt. Die Beurteilung der Kausalität zwischen einem Risikofaktor wie der Epstein-Barr-Virusinfektion und dem Auftreten einer Krankheit ist nicht leicht und erfordert verschiedene Arten von Studien. Kausalität kann man nicht direkt beobachten und nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten, sondern es erfordert eine Interpretation einer ganzen Reihe von Studienergebnissen.

Kriterien für Kausalität

Die Kriterien zur Beurteilung der Kausalität wurden schon seit den 1950er Jahren entwickelt und werden von Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation regelmässig angewendet (wie zum Beispiel zur Beurteilung von Risikofaktoren für Krebserkrankungen).

Zu diesen Kriterien gehören:

  1. die Stärke der beobachteten Assoziation (d.h. ob eine Krankheit bei Personen mit Risikofaktor doppelt und 5-mal so häufig auftritt wie bei Personen ohne Risikofaktor),
  2. wie ähnlich die Resultate verschiedener Studien sind,
  3. ob es aufgrund des biologischen Wissens und Experimenten im Labor plausibel ist, dass ein kausaler Zusammenhang besteht, und
  4. ob bei stärkerer Ausprägung des Risikofaktors das Risiko für die Erkrankung steigt (Dosis-Wirkungsbeziehung).
    Ganz wichtig für die Beurteilung ist, dass
  5. der Risikofaktor zeitlich vor dem Auftreten der Krankheit genügend lange vorhanden war (sogenannte Temporalität) und
  6. ob Interventionsstudien, welche versuchen den Risikofaktor zu reduzieren (z.B. Impfung) das Auftreten der Krankheit reduzieren.

Die Studie von Bjornevik trägt nun wichtige zusätzliche Resultate zur Beurteilung dieser Kriterien bei. Die Stärke der Assoziation zwischen einer Epstein-Barr-Virusinfektion und dem Auftreten von MS ist enorm hoch: Bei Angehörigen der US Armee trat eine MS 32-mal häufiger nach einer EBV-Infektion als bei Angehörigen ohne EBV-Infektion. Die Studie konnte das Vorhandensein des Risikofaktors EBV-Infektion zeitlich klar vor der Diagnose einer MS bestimmen. Zusätzlich wurden Biomarker bestimmt (wie Neurofilamente), welche einen aktiven Krankheitsprozess bei der MS (neuroaxiale Degeneration) dokumentieren.

Durch sorgfältige Analysen konnte die Studie zudem aufzeigen, dass das gehäufte Auftreten der MS bei Personen mit einer neuen EBV-Infektion mathematisch nicht zufällig oder mit anderen Faktoren erklärbar war.  

Kausaler Zusammenhang zwischen EBV und MS verstärkt

Die vorliegende Studie stärkt die Evidenz der schon zuvor vorhandenen Studien für einen kausalen Zusammenhang zwischen einer EBV-Infektion und dem Auftreten einer MS. Die oben genannten, sehr wichtigen Kriterien für eine Kausalität wie die Stärke der Assoziation und Temporalität werden durch diese epidemiologische Studie wesentlich verstärkt.

Bezüglich der Rolle eines kausalen Auslösers gibt es in der Wissenschaft aber noch zwei weitere wichtige Unterscheidungen. Ist dieser Faktor notwendig zur Entstehung der Krankheit? Und genügt dieser Faktor alleine, um die Erkrankung entstehen zu lassen? Die neue Studie liefert deutliche Hinweise für die erste Frage: EBV ist wahrscheinlich entscheidend für die Entstehung einer MS. Eine EBV-Infektion alleine ist jedoch nicht genügend, um die Krankheitsentstehung zu erklären, denn die grosse Mehrheit der Menschen nach einer EBV-Infektion entwickelt keine MS. Deshalb ist auch weiterhin stark anzunehmen, dass bekannte Risikofaktoren wie bestimmte Gene, Rauchen, oder Vitamin D eine zusätzliche Rolle bei der Entstehung von MS spielen.

Ein wichtiger Grundstein für die weitere Forschung

Wie die Autoren betonen, ist nun die weitere Untersuchung von antiviralen Therapien und Impfungen in Interventionsstudien wichtig. Denn wenn Interventionsstudien (vor allem randomisiert kontrollierte Studien) zeigen, dass das Auftreten einer MS durch eine Prävention (Impfung) reduziert werden kann, dann erhält man ein weiteres wichtiges Indiz, dass eine EBV-Infektion zur Entstehung der MS massgeblich beiträgt.

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Prof. Dr. Milo Puhan, Professor für Epidemiologie und Public Health, ist Direktor des Schweizer MS Registers und Mitglied des Medizinisch-wissenschaftlichen Beirats der Schweiz. MS-Gesellschaft
Prof. Dr. Viktor von Wyl, Assistenzprofessor für Digital and Mobile Health, ist Projektleiter des Schweizer MS Register und Mitglied des Medizinisch-wissenschaftlichen Beirats der Schweiz. MS-Gesellschaft