Herr Kuhle, fast jeder ist – meist symptomfrei – mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) infiziert. Warum tritt Multiple Sklerose (MS) dennoch nur bei wenigen auf?
Aus früheren Studien wissen wir, dass es rund 200 Risikogene für MS gibt. Jedes dieser Gene für sich hat zwar nur einen sehr kleinen Effekt, in ungünstigen Kombinationen jedoch erhöhen sie das Risiko deutlich, diese nervenschädigende Autoimmunerkrankung zu entwickeln. Es spielen aber immer auch Umweltfaktoren eine Rolle, wie etwa Vitamin-D-Mangel oder eben potenziell eine Virusinfektion. Womöglich braucht es gewisse genetische Voraussetzungen in Kombination mit der EBV-Infektion, damit die betroffene Person MS entwickelt.
Wie kam das Projektteam darauf, dieses Virus als mögliche Ursache von MS zu erforschen?
Die Vermutung, dass eine Virusinfektion Auslöser sein könnte, bestand in Fachkreisen schon länger. Beispielsweise weiss man, dass Kinder und Jugendliche, die durch eine EBV-Infektion an Pfeifferschem Drüsenfieber erkranken, ein etwa zweifach erhöhtes Risiko haben, später MS zu entwickeln. Das Forschungsteam in Harvard (USA) um Alberto Ascherio, das bei der jetzt veröffentlichten Arbeit federführend war, konnte bereits in früheren kleineren Studien erste Belege für EBV als Faktor bei der Entstehung von MS sammeln. Mit der Analyse eines Datensatzes von rund zehn Millionen Angehörigen des US-Militärs legen wir nun erstmals einen kausalen Zusammenhang mit grosser Wahrscheinlichkeit nahe (siehe Details zur Studie).
Wie könnte man sich den Mechanismus vorstellen, wie genau dieses Virus MS auslöst?
Dafür gibt es mehrere mögliche Erklärungen. Zum einen könnte das Epstein-Barr-Virus direkt die Nerven angreifen und sie so verändern, dass das Immunsystem beginnt, die Myelinscheide, also quasi die Schutzschicht der Nervenzellfortsätze anzugreifen. Das führt dann zur MS-typischen Schädigung und Zerstörung der Myelinscheide. Zum anderen könnte es sich um einen Fall von sogenannter molekularer Mimikry handeln: Bestandteile des Virus ähneln Bestandteilen der Myelinscheide. Wenn das Immunsystem das Virus erkennt und bekämpft, könnten die Immunzellen in der Folge auch fälschlicherweise die körpereigene Schutzschicht als fremd erkennen und angreifen. Aber wie genau das EBV zur Entwicklung einer MS beiträgt, müssen künftige Studien aufklären. Das sind nur zwei aus einer Reihe von möglichen Erklärungen, die zur Zeit erforscht werden.
Multiple Sklerose kommt zwei- bis dreimal häufiger bei Frauen als bei Männern vor. Wie passt das mit der Rolle des Virus als Auslöser zusammen?
Das wissen wir noch nicht. Dieser Geschlechterunterschied ist generell noch ein grosses Rätsel. Man weiss beispielsweise, dass Östrogen eigentlich einen schützenden Effekt hat. Warum also trifft MS Frauen häufiger? Möglicherweise liegt die Antwort darin, dass Frauen eventuell vermehrt unter Vitamin D-Mangel leiden, der ebenfalls ein Risikofaktor für MS ist. Dass das Epstein-Barr-Virus das Immunsystem von Männern und Frauen unterschiedlich anspricht, wäre aber ebenfalls denkbar.
Die meisten von uns Erwachsenen sind schon mit dem EBV infiziert. Könnten und sollten wir beispielsweise Kinder vor der Infektion schützen, um sie vor MS zu bewahren?
Tatsächlich sind wir fast alle mit dem EBV infiziert, und die Mehrheit von uns entwickelt keine MS. Unser Befund, dass EBV eine Rolle bei MS spielt, ist daher kein Grund zur Panik. Allerdings kann das EBV auch andere schädliche Langzeitfolgen wie bestimmte Krebserkrankungen haben. Dieses Virus bedeutet wohl nichts Gutes für uns Menschen und eine Impfung wäre wünschenswert. Solche Impfstoffe sind derzeit in der Entwicklung. Womöglich könnte man dann auch MS durch eine Impfung verhindern.
Was bedeuten die Ergebnisse in Ihren Augen für MS-Betroffene?
Es besteht zumindest die Möglichkeit, dass EBV nicht nur als Auslöser eine Rolle spielt, sondern auch bei der Auslösung von Entzündungsschüben. Bisher gibt es hierzu keine oder sehr limitierte Daten. Wenn sich dieser Verdacht bestätigt, könnte man MS auch mit antiviralen Therapien in den Griff bekommen, ähnlich wie HIV. Die heutigen Behandlungsmethoden setzen darauf, das Immunsystem mehr oder weniger spezifisch zu unterdrücken. Dadurch können die Betroffenen jedoch anfälliger für Infektionen werden oder können trotz Impfung weniger gut einen Schutz etwa gegen das Coronavirus aufbauen. Eine antivirale Therapie wäre da natürlich eine vielversprechende Alternative.