MS und Sexualstörungen

Fachartikel

Wie die meisten Menschen trauen sich auch MS-Betroffene kaum, über sexuelle Störungen zu reden. Schade, denn das alte Sprichwort «Reden ist Silber, Schweigen ist Gold» hat sich, wenn es um Sex geht, nicht bewährt. Wer mit seinem Sexualleben unzufrieden ist, sei es weil die Leidenschaft der Routine gewichen ist oder weil es nicht mehr so gut funktioniert, sollte diese alte Weisheit über Bord werfen.

Für lustvollen Sex kann Reden Gold sein! Gespräche mit dem Partner, aber auch mit Fachleuten wie Psychotherapeuten, Eheoder Sexualberatern können helfen Wünsche, Probleme und Ängste anzusprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Weil Sexualfunktionsstörungen sowohl die Lebensqualität als auch die Partnerschaften der MS-Betroffenen erheblich beeinflussen, ist es gerechtfertigt, dass auch FORTE hier kein Blatt vor den Mund nimmt, die möglichen Störungen im Intimbereich kurz darstellt und gleichzeitig Methoden aufzeigt, wie man am besten mit diesen Schwierigkeiten umgeht.

Sexualfunktionsstörung

Wenn gezielt danach gefragt wird (was in der Regel auch von ärztlicher Seite zu wenig gemacht wird), finden sich Sexualfunktionsstörungen bei MS sehr häufig. Je nach Fachautor und Dauer der Krankheit sowie dem Ausmass der Behinderung kommen Sexualstörungen bei 40 bis 80% der Frauen und bei 50 bis 90% der Männer mit MS vor. Verglichen mit der sogenannten «Normalbevölkerung», finden sich Sexualstörungen also drei- bis viermal Mal häufiger bei MS-Betroffenen.

In Abhängigkeit ihrer Ursache lassen sich Sexualfunktionsstörungen bei MS folgendermassen einteilen:

Primäre Sexualfunktionsstörungen entstehen, wenn die im Rückenmark oder im Hirn vorhandenen Läsionen direkt sexuelles Empfinden und sexuelle Funktionen beeinträchtigen. Bei Männern können ein Verlust der Erektionsfähigkeit sowie Störungen beim Samenerguss beobachtet werden. Frauen hingegen beklagen Trockenheit der Vagina, Libidoverlust, unangenehme Empfindungen im Genitalbereich oder eine eingeschränkte Erregungsfähigkeit bis hin zum ausbleibenden Orgasmus.

Sekundäre Sexualfunktionsstörungen entstehen indirekt, wenn z.B. Blasenstörungen mit Inkontinenz eine normale Sexualfunktion erschweren oder nicht zulassen. Weiter kann Fatigue das sexuelle Interesse mindern, die Spastizität das Finden von geeigneten Positionen beim Koitus erschweren und letztlich können Schmerzen die Libido wohl kaum aufflackern lassen. Wenn psychosoziale Faktoren zu einer veränderten Wahrnehmung des eigenen Körpers führen und so Freude und Lust an der Sexualität einschränken, spricht man von tertiären Sexualfunktionsstörungen. Aussagen wie: «Ich kann doch nicht gleichzeitig Liebhaber und Pfleger sein!» oder «Nun, da ich ein Pflegefall bin, findet er mich nicht mehr attraktiv!», weisen auf das Vorliegen von tertiären Sexualfunktionsstörungen hin.

Medikamentöse Behandlung beim Mann

Bei der erektilen Dysfunktion können Substanzen wie Sildenafil, Verdenafil oder Tadalafil mit gutem Erfolg angeboten werden. Als mögliche Nebenwirkungen ist mit Durchfall, verstopfter Nase oder Gesichtsrötung zu rechnen. Dafür haben diese Tabletten, verglichen mit frü- heren Methoden, den Vorteil, nur in den seltensten Fällen einen Priapismus (eine über Stunden anhaltende, schmerzhafte Erektion) zu verursachen. Die Dosis ist individuell anzupassen. Von den Krankenkassen werden die Kosten eventuell übernommen – fragen lohnt sich. Doch auch nach der Einnahme von Viagra wird man unter anderem beim Schauen eines Fussballmatches im Fernsehen wohl kaum eine Erektion entwickeln, vielmehr ist es wichtig auf erotische Reize und Botschaften der Partnerin zu achten und dafür empfänglich zu sein.

Massnahmen für die Frau

Die verminderte Feuchtigkeit der Vagina lässt sich durch verschiedene im Handel erhältliche Gels beheben. Weil eine verminderte Empfindung im Genitalbereich zu den typischen Beeinträchtigungen gehört, ist es manchmal nötig, mit anderen Stimulationsmethoden wie Masturbation, oralem Sex oder der Verwendung eines Vibrators nachzuhelfen. Haben Frauen Schwierigkeiten, beim Sex den Urin zu halten, hat sich das vorgängige Wasserlösen (evtl. mittels Selbstkatheterisierung) bewährt. Erschwert die Spastik den Geschlechtsverkehr (Koitus) und das Eindringen (Penetration), können spastikreduzierende Medikamente hilfreich sein, deren richtige Dosis individuell ermittelt werden muss.

Grenzen und weitere Einflüsse

Es gibt keine einfachen Methoden, die verloren gegangene Libido wieder wachzurufen. Es sollte nicht vergessen werden, dass Sexualität nicht reduzierbar auf körperliche Reaktionen ist. Anders ausgedrückt bedeutet Sexualität mehr als nur Potenz oder Orgasmusfähigkeit. Geborgenheit, Zärtlichkeit und Lust sind wichtige Facetten des Liebesspiels. Gehen Sie gemeinsam mit Ihrem Partner auf Entdeckungsreise und erforschen Sie neue Dimensionen Ihrer Sexualität trotz möglicher funktioneller Einschränkungen.
Handkehrum ist es wichtig zu wissen, dass geringes oder fehlendes sexuelles Interesse nicht als krankhaft anzusehen ist, insbesondere wenn beide Partner daran keinen Anstoss nehmen und wenn ihre Bindung auf anderen Säulen ruht.

In der Beratung von MS-Betroffenen geht es weniger darum, ein «normales Sexualleben» herzustellen, sondern vielmehr darum, die Teilhabe am Spiel der Geschlechter dort zu unterstützen, wo es von den Betroffenen erwünscht ist. Sexuelle Zufriedenheit wird ja nicht nur vom Ausmass der Sexualstörungen bestimmt, sondern hängt viel mehr von der Fähigkeit des Paares ab, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um bestmöglich mit den Symptomen der Erkrankung umzugehen.

Text: Dr. med. Claude Vaney, FMH Neurologie, Chefarzt der neurologischen Rehabilitations- und MS-Abteilung, Berner Klinik Montana, Crans-Montana