«Kleine Brötchen backen will gelernt sein»

Viele Menschen setzen sich mit der schwierigen Frage auseinander, was für sie ganz persönlich eine gute Lebensqualität ausmacht. Durch die Diagnose MS stellt sich Irene Rapold diese Frage aus einem ganz neuen Blickwinkel.

Bei Irene Rapold wurde 2006 MS diagnostiziert. Damals stand sie mit ihrem Ehemann und den damals 12- und 9-jährigen Kindern mitten im Leben. Rückblickend sagt sie, solange sie gesund gewesen sei, sei ihr alles selbstverständlich erschienen. Erst heute könne sie wertschätzen, was es bedeutet, wenn man ohne Einschränkungen tun kann, was man möchte.

Der Fokus im Leben der gelernten Chemikerin hat sich mit der Diagnose MS geändert. So standen früher neben der Familie und dem Freundeskreis auch die berufliche Verwirklichung und Weiterentwicklung im Vordergrund. Das hat sich geändert, seit Irene Rapold ihre Berufstätigkeit aufgeben musste. Heute widmet sie sich ganz ihrer Familie und schätzt den Kontakt zu Freunden und Bekannten. «Meine Familie unterstützt mich bei der Strukturierung meines Alltags, fordert mich aber auch», erzählt die 52-jährige. Lebensqualität meint auch das Gefühl, gebraucht zu werden. Das ist besonders schwer, wenn man nicht mehr erwerbstätig sein kann. Als Irene Rapolds Kinder älter wurden, war es seltsam, nicht mehr erwerbstätig zu sein. «In einem Moment, in dem meine Freundinnen und Nachbarinnen wieder arbeiten gingen, musste ich auf einmal zuhause bleiben. Arbeit nicht nur auf Erwerbstätigkeit zu beschränken, hat mir geholfen, mich mit meinen Einschränkungen abzufinden.»

«Das Menü ist immer noch das gleiche»

Die psychische Belastung kann für viele Betroffene ein Hindernis werden. Frustration, Wut und Trauer können den Weg versperren, die kleinen Dinge schätzen zu lernen. Irene Rapold berichtet aus ihrer eigenen Erfahrung: «Mein Alltag, gewissermassen mein Menü, ist eigentlich immer noch das gleiche, es gibt einfach von allem ein bisschen weniger. Aber auch kleine Brötchen backen will gelernt sein.» Die innere Einstellung und die Kraft, den Blick nicht nur darauf zu richten, was nicht mehr geht, sondern für die guten Gedanken einzusetzen, hat Irene Rapold viel Lebensqualität zurückgegeben.

Ein Perspektivenwechsel

In ihrem Alltag unternimmt die gebürtige Bündnerin viele Dinge, die ihr wichtig sind. Heute freut sie sich, dass sie unabhängig unterwegs sein kann und auch tagsüber ein Museumsbesuch möglich ist. Diese Freiheit, auch tagsüber Zeit für Unternehmungen zu haben, hatte sie früher nicht. Neben täglicher Bewegung und kleinen Sporteinheiten gönnt sich die die 52-jährige auch mal einen Coiffeurbesuch mehr als früher. «Ich habe realisiert, dass es mir gut geht, wenn ich mich danach im Spiegel anschaue. Ich habe den Eindruck, dass ich auch anders wahrgenommen werde.» Nicht auf die Krankheit reduziert zu werden, sondern immer noch Irene Rapold sein – für die aufgeschlossene, temperamentvolle Frau ist das ein Stück Lebensqualität.

Ihrer Meinung nach braucht es in der Gesellschaft mehr Rücksichtnahme und Verständnis für MS-Betroffene. «Ich würde mir wünschen, dass ich mich nicht immer rechtfertigen muss, wenn etwas nicht möglich ist oder wenn es mir zu viel wird. Man sieht es manchmal nicht auf den ersten Blick, aber es gibt Gründe, warum Menschen so handeln wie sie eben handeln.» Irene Rapold setzt sich in den Zügen und Bussen auf die Plätze für Menschen mit Behinderung, obwohl man ihre Einschränkungen oft von aussen nicht wahrnimmt. Oder sie hat zu wenig Kraft in den Händen, um den Drehverschluss einer PET-Flache zu öffnen und muss deshalb um Hilfe bitten.

Langsam ist das neue Schnell

Die fortschreitende Urbanisierung habe auch zu einer Beschleunigung unserer Gesellschaft geführt. Dass diese Beschleunigung zur Ausgrenzung von Menschen mit Einschränkungen führt, kritisiert Irene Rapold, die seit bald 20 Jahren in Winterthur lebt. «Für mich ist Langsam das neue Schnell,» sagt sie. Lebensqualität bedeutete auch, sich für die kleinen Dinge des Alltags Zeit zu nehmen, und das würde eigentlich allen gut tun.

Eine Lebensweisheit hat Irene Rapold geholfen, mit ihrer Krankheit und deren Folgen umzugehen: «Jeder Tag kann ein Happy Day sein». Deshalb überlegt sie sich jeden Abend Gründe, wieso der vergangene Tag ein Happy Day war, anstatt sich Gedanken über die negativen Vorkommnisse zu machen. Ein Happy Day wird im Kalender mit einem Smiley markiert. Am Ende des Monats wundert sie sich häufig: «Oh, schon wieder 25 Happy Days!»

Mehr «Happy Days»

Die Geschichte von Irene Rapold verdeutlicht, dass man seine Lebensqualität auch mit und trotz MS erhalten kann. Forschungsprojekte zielen häufig auf neue Therapiemöglichkeiten ab oder versuchen, die Ursache der Krankheit herauszufinden. Forschung soll aber auch den konkreten Lebensalltag von Betroffenen verbessern. Daher fördert die MS-Gesellschaft seit diesem Jahr mit 100‘000 zusätzlichen Franken wissenschaftliche Projekte, die sich mit der Verbesserung der Lebensqualität von MS-Betroffenen befassen. So sollen noch mehr Betroffene «Happy Days» in ihre Kalender eintragen können!

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