Können Sie uns ein wenig von Ihrer Karriere erzählen? Woher kommt Ihr Interesse für die Kunst?
In meiner Familie hatten Kunst und Kultur immer eine zentrale Bedeutung. Mein Vater war Fotograf, und auch meine Mutter war in der Welt der Kreativen zu Hause. Es ist also alles andere als Zufall, dass auch ich mich der Kunst zugewandt habe.
Wie kamen Sie zu diesem monumentalen Projekt?
Die Winzerbruderschaft (Confrérie des Vignerons) hat mich kontaktiert, nachdem sie von anderen Projekten wie meinen Eröffnungs- und Abschlusszeremonien für die Olympischen Spiele oder meinen Inszenierungen für den Cirque du Soleil gehört hatten. Ich nehme an, meine Arbeit hat ihnen gefallen.
Was ist für Sie das Wichtigste bei der Konzeption einer Aufführung?
Das kommt immer auf die Aufführung an – es gibt kein Element, das wichtiger oder weniger wichtig ist als ein anderes. Die Herausforderung kann darin bestehen, ein Thema, Menschen, mit denen man zusammenarbeiten möchte, eine Botschaft zu finden – oder aber darin, eine persönliche Beziehung zum Projekt aufzubauen. Dabei ist jede Aufführung einzigartig, und jedes Mal liegt mir etwas anderes ganz besonders am Herzen.
Wie würden Sie die Fête des Vignerons mit wenigen Worten beschreiben?
Die Fête des Vignerons ist eine monumentale Feier, die der Erde und unserer Beziehung zu ihr gewidmet ist. Die einige Wochen dauernden Feierlichkeiten und die Aufführung versprühen Freude und repräsentieren eine ganze Generation. Sie ermöglichen es den Zuschauern, ein bisschen verrückt zu sein.
Wie läuft die Arbeit mit den Darstellerinnen und Darstellern?
Sehr gut, es läuft wie am Schnürchen. Manchmal ist die Arbeit anstrengend, aber wir nehmen aus jeder Begegnung mit den Darstellerinnen und Darstellern etwas mit – wir spüren Enthusiasmus, eine gewisse Leichtigkeit und Neugier. Ich bewundere die Darstellerinnen und Darsteller sehr.
Haben Sie eine Lieblingsaufführung oder ein Lieblingsensemble?
Nein, mit der Zeit lerne ich, jede Aufführung und jedes Ensemble zu lieben – die Ausdruckskraft der Bewegungen und der Emotionen grosser Ensembles gleichermassen wie das Heldentum kleiner Ensembles. Im Laufe der Jahre habe ich auch traditionelle Ensembles zu schätzen gelernt, die weniger mit unserer Vorstellungskraft arbeiten.
Welchen Stellenwert haben Behinderungen in der Aufführung?
In der Aufführung ist der Behinderung per se keine Rolle zugewiesen. Jeder Einzelne hat seine eigene Rolle. Diese Frage haben wir uns gar nicht gestellt. Wir gehen individuell auf die Besonderheiten und Fähigkeiten jeder einzelnen Person ein, die mit all ihren Stärken und Schwächen Teil der Aufführung ist. Wir alle stossen irgendwo an unsere Grenzen, unabhängig davon, ob wir eine Behinderung haben oder nicht. Und wenn wir das Glück haben, alt zu werden, sind wir auch mit immer mehr Schwierigkeiten konfrontiert. Wir erstellen daher kleine, weniger anspruchsvolle Gruppen, damit ältere Menschen oder Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die Schwierigkeiten beim Treppensteigen haben, auf einer flachen Ebene bleiben können. Dahinter steckt die Idee, die Stärken aller zu nutzen. Wir können uns glücklich schätzen, mit den Kunstturnerinnen und -turnern von Sport-up zusammenarbeiten zu dürfen und so eine Aufführung mit diesen sehr begabten Jugendlichen, die seit über einem Jahr am Projekt arbeiten, auf die Beine stellen zu können!
Können Sie uns etwas zur Figur der Botin erzählen?
Die Gesellschaft muss sich gewisse Fragen stellen und öffentliche Räume so anpassen, dass alle Menschen am öffentlichen Leben teilnehmen können. Als wir mit der Arbeit begonnen haben, sagte uns das verbreitete Bild des «humpelnden» Boten nicht zu. Wir wollten daraus etwas Positives machen, mit der Tradition brechen, die Figur in eine andere Dimension heben und den Menschen und nicht seine Behinderung in den Mittelpunkt stellen. Für genau diese Rolle haben wir also jemanden gesucht und Sofia gefunden. Heute humpelt diese Figur nicht mehr, die Botin ist eine charismatische und starke Person. Im Grunde ist der humpelnde Bote aber ist nicht von der Bildfläche verschwunden, er hat sich nur verwandelt und überbringt jetzt eine positive Botschaft der Inklusion.
War Ihnen die Inklusion von Menschen mit einer Behinderung in der Aufführung wichtig? Wenn ja, warum?
Dieses Thema kam früh auf den Tisch und ist mir sehr wichtig. Inklusion ist ein selbstverständlicher Teil meiner Arbeit. Ich habe in meinem Ensemble zum Beispiel eine Künstlerin mit Trisomie, mit der ich schon seit vier Jahren zusammenarbeite. Ausserdem hatte ich die Gelegenheit, mit einer Opernsängerin zu arbeiten, die ihr Gehör verloren hat und seitdem mit Vibrationen arbeitet. Manchmal bringen eine Behinderung und der Versuch, sie auszugleichen, wunderbare Fähigkeiten ans Licht – diese Magie steckt in jedem Wesen.
Haben Sie eine persönliche Beziehung zu Behinderung oder Krankheit?
Mein Vater erlitt ein Schädeltrauma, als ich noch klein war. Dieser Unfall hat ihn sehr verändert, auch wenn man das von aussen kaum wahrnehmen konnte. Er hatte kognitive Störungen. Das war vor mehr als 40 Jahren, und damals hat uns niemand bei dieser Herausforderung begleitet. Wir haben so getan, als wäre nichts passiert, und er ist trotz der Folgeschäden durch seinen Unfall wieder arbeiten gegangen. Das hat seine Lebensqualität enorm gemindert, und heute sehe ich, dass Menschen, die sich einer solchen Herausforderung stellen müssen, dank Beratung durch Organisationen wie der Ihren besser auf die Zukunft vorbereitet sind und somit bessere Entscheidungen treffen können. Das ist eine tolle Errungenschaft.