Gesichter der MS 2021: Giulia Merz

Gesichter der MS

Diese Serie ist anders. Nicht Dritte oder Unbeteiligte reden über MS und Menschen mit MS. Sondern MS-Betroffene selbst sprechen über ihr Leben mit einer unheilbaren Krankheit, ihre Hoffnungen, ihre Ängste. Wie die Krankheit sie fordert, aber auch, wie die MS sie vielleicht stärker gemacht hat. Wie eng gute und schlechte Erfahrungen beieinander liegen.

Erzähl uns etwas über dich. Wer bist du? Wie alt bist du?
Ich bin Giulia, 28 Jahre alt, arbeite im Familienunternehmen im Büro und wohne in der Nähe von Aarau. Ich bin verheiratet, wir haben einen Hund (namens Bud Spencer) und ein Pferd.

Was bedeutet MS für dich?
Es ist eine Herausforderung fürs Leben – ich habe seit der Diagnose viel über mich und meinen Körper gelernt und versuche den Moment zu geniessen. Ich schätze auch alles wieder etwas mehr was vorher selbstverständlich war. Zudem bin ich dankbar für alles was ich noch machen kann und darf. MS ist zwar mein ständiger Begleiter, jedoch bestimme immer noch ich mein Leben.

Wie lange bestanden bei dir schon die Symptome vor der Diagnose?
Ungefähr 3 Monate.  

Wie und in welchem Alter wurde dir die Diagnose MS vermittelt?
Als ich 24 Jahre alt war, erhielt ich die Diagnose. Ich konnte meine linke Körperseite nicht mehr so koordinieren, wie ich es gern gehabt hätte. Zudem hatte ich immer ein Ziehen und Stechen im Rücken - da dachte ich, ich habe mir irgendetwas eingeklemmt und bin zur Massage.

Als dies nicht besser wurde, habe ich mich beim Hausarzt gemeldet. Dieser machte bei mir ein paar Tests und überwies mich sofort ins Spital. Nach 5 Tagen im Spital mit weiteren Tests und Untersuchungen stand dann die Diagnose MS fest. Ich wusste vorher schon, dass irgendetwas nicht stimmte. Mein Pferd war in den 3 Monaten vor der Diagnose immer sehr speziell, wenn ich aufgestiegen bin – ich denke es hat schon vorher gemerkt, dass da bei mir etwas nicht so ist, wie es sein sollte.

Was war dein erster Gedanke nach der Diagnose MS?
S**eisse – und jetzt?

Welche Symptome machen dir am meisten zu schaffen? Wo behindern dich die Symptome im Alltag, wie beeinflusst die MS deine Lebensqualität?
Mir geht es zum Glück im Grossen und Ganzen sehr gut. Ich merke, dass die eine Körperhälfte etwas schwächer ist als die andere und auch die Müdigkeit macht mir manchmal zu schaffen. Ich habe immer noch eine sehr hohe Lebensqualität, was sich sogar seit der MS verbessert hat, da ich «gezwungen» war, meinen Alltag zu planen und mich auf das Wichtige zu konzentrieren. Ich habe im letzten Jahr sogar eine Weiterbildung angefangen. 

Hast du deine Diagnose kommuniziert? Wenn nein, warum nicht? Was waren Befürchtungen oder Gründe? Was würdest du anderen Menschen mit einer Neudiagnose heute empfehlen?
Nachdem ich selber realisiert habe, was meine Diagnose genau ist und bedeutet, bin ich sehr offen mit der Diagnose umgegangen. Die Arbeitgeber wussten immer Bescheid und auch in Familie und Freundeskreis wissen alle Bescheid.

Wie geht dein privates Umfeld, also Familie, Freunde, Partner, mit deiner Krankheit um? Hast du Kinder? Wie gehen sie damit um? Wie bekommst du/mit deinem Partner Kinder und Beruf unter einen Hut?
Am Anfang war es natürlich für alle ein Schock. Aber sowohl mein Mann, als auch meine Familie und Freunde gehen gut mit der Diagnose um und unterstützen mich. Ich arbeite noch 60% (freiwillig, ohne IV) und kann somit meinen Alltag sehr gut planen: am Morgen arbeiten, am Nachmittag Reiten und mit dem Hund spazieren gehen -  und wenn noch Energie vorhanden ist, am Abend noch etwas Fitness.

Welches sind die grössten Vorurteile oder Irrtümer, mit denen du als MS-Betroffener konfrontiert wirst? Wie gehst du damit um, was erträgst du am wenigsten gut?
Dass viele meinen, MS = Rollstuhl. Ich bin aktiv im Amateur-Springsport unterwegs mit meinem Pferd und am meisten Reaktionen erhalte ich darauf, dass Menschen  nicht fassen können, dass ich noch reite und sogar Springreiten betreibe.  

Ich nehme die Vorurteile nie persönlich, nehme dann lieber die Gelegenheit wahr und kläre über die Krankheit auf. Die meisten sind auch froh, können Sie mit jemandem offen darüber reden und einer «Betroffenen» direkt Fragen stellen können. 

Wo siehst du den Beitrag der Schweiz. MS-Gesellschaft zur Enttabuisierung der MS oder zur Stärkung der Solidarität?
Die Schweiz. MS-Gesellschaft informiert die Bevölkerung sehr gut über die Krankheit. Ich hatte nach meiner Diagnose auch kaum Ahnung von der Krankheit, aber auf der Internetseite habe ich gleich viele Infos erhalten. Es sind immer wieder spannende Beiträge dabei und auch tolle Info-Veranstaltungen, die ich auch schon gern besucht habe.

Kennst du vielleicht MS-Betroffene, die sich bewusst «nicht outen». Weisst du , warum sie das nicht tun? Wie könnte die Schweiz. MS-Gesellschaft diese Menschen unterstützen?
Ich kenne im Bekanntenkreis einige die an MS erkrankt sind, jedoch gehen alle offen mit der Krankheit um.

Was ist für dich tabu bei deiner MS? Gibt es Dinge, über die du nicht einmal mir deinem engsten Umfeld sprechen möchtest? Gibt es umgekehrt Dinge, die dein Umfeld gar nicht wissen möchte?
Ich habe bis jetzt noch nichts gefunden was ein Tabu wäre, ich bin auch jemand, der ziemlich offen über alles spricht. Natürlich kommt es darauf an, wer mir gegenüber steht.

Wie ist die Situation an deiner Arbeitsstelle?
Ich hatte das Glück bei meiner Arbeit, dass jeweils alle "positiv" eingestellt waren und ich nie ein negatives Erlebnis hatte.

Hat sich aus deiner Sicht in den letzten Jahren etwas verändert in der Gesellschaft oder Politik gegenüber chronisch kranken Menschen? Was ist vielleicht besser oder schwieriger geworden?
Wir sind sicherlich mehr informiert, auch dank Social Media. Jetzt nicht nur in Bezug auf MS, sondern auch über andere Krankheiten. Ich hoffe, dass es bezüglich der IV etwas besser wird, ich lese immer wieder, dass es für chronisch Kranke immer schwieriger wird Hilfe von der IV zu erhalten.

Wenn Du morgen zum «Minister für Forschung gegen die MS» ernannt wirst, was sind deine ersten 3 Massnahmen?
Ich glaube ich wäre überfordert, aber ich würde alles daran setzen, dass noch mehr Geld in die Forschung fliesst.

Welche positiven Gedanken verbindest du mit den Begriffen Forschung und MS?
Es gibt bereits diverse Medikamente und weitere werden erforscht. Das heisst für mich, dass die Krankheit intensiv ergründet wird. Das gibt mir Hoffnung.

Welche Gefahren siehst du für den Bereich Forschung und MS?
Ich habe mir über Gefahren noch keine Gedanken gemacht, stehe der ganzen Forschung jedoch sehr positiv gegenüber. Auch wenn ein neues Medikament kommt und wir noch nicht viel über die Langzeitfolgen wissen. Denn auch gesunde Menschen wissen nicht, was in 10 oder 20 Jahren mit ihnen «passiert».

Verfolgst du Informationen zu den Entwicklungen in der Forschung? Aus welchen Quellen? An welchen Forschungsthemen bist du besonders interessiert?
Ja, den einen oder anderen Artikel lese ich. Meistens von der Schweiz. MS Gesellschaft oder auch aus Deutschland oder Österreich. Ich lese immer gerne über neue Forschungsergebnisse und über neue Medikamente, die getestet werden.

Welche Frage(n) wolltest du einem MS-Forscher schon immer mal ganz direkt stellen? Raus damit.
Was treibt Sie an (welche Motivation haben Sie), an dieser Krankheit zu Forschen?

Wo in deinem Alltag sollte die MS-Forschung ganz speziell positive Veränderungen ermöglichen?
Mir selber geht es ja glücklicherweise sehr gut, aber für die Betroffenen mit der Sekundär progredienten MS hoffe ich, dass noch viel geforscht wird, um ihnen den Alltag zu erleichtern.

Wie entspannst du dich? Welchen Rat hast du für andere MS-Betroffene?
Ich entspanne mich beim Reiten, wenn ich mit dem Hund spazieren gehe, bei Freunden und der Familie. Wichtig ist, sich die Zeit zu nehmen um zu entspannen. Das ist etwas, was ich seit der Diagnose gelernt habe, aktiv auf den Körper zu hören. Er sagt dir schon, wenn du eine Pause brauchst.

Was macht dir in Bezug auf deine MS Angst?
Angst ist vielleicht das falsche Wort, aber wenn ich jemals nicht mehr selbständig sein kann und auf Unterstützung angewiesen bin, vor dieser Situation habe ich Respekt. Denn ich bin eine Person, die gerne alles selber «schafft» und selten Hilfe in Anspruch nimmt.

Was gibt dir in Bezug auf deine MS Hoffnung?
Die Forschung ist immer weiter – viele neue Medikamente sind in den letzten 4 Jahren zugelassen worden.

Welchen Satz über MS kannst du nicht mehr hören?
Ach, du siehst ja gesund und fit und gar nicht krank aus.

Wenn deine MS ein Tier wäre, welches und warum?
Eine Mücke – sie schwirrt immer etwas um dich herum und plötzlich erhältst du einen Stich. Sprich, etwas kratzt dich und du fragst dich, ob es eventuell wieder ein Schub ist oder nicht.

Ein Satz für deine Liebsten?
Danke für alles.

Dein Lebens-Motto?
Jeder Tag, an dem du dich selber anziehen kannst, ist ein guter Tag.

Hattest du im Zusammenhang mit MS lustige und/oder traurige Erlebnisse?
Beide Erlebnisse haben mit meinem Pferd zu tun. Ein trauriges Ereignis war, als ich circa 3 Monate nicht mehr richtig reiten konnte, da ich meine Koordination einfach nicht im Griff hatte. Das Schönste war, als es dann endlich wieder ging, mein Pferd merkte dies - und war bei den ersten Ausritten sehr «lustig» drauf.

Dein Lieblingsbuch? Lieblingsfilm? Lieblingsessen? Gegen den MS-Blues?
Ich habe kein Lieblingsbuch, lese aber gerne Bücher über wahre Geschichten. Mein absolutes Lieblingsessen ist Lasagne.

Wenn du 3 Wünsche an die gute Fee frei hättest – für dich, die Welt, für wen und was auch immer: Welche wären das?
Einen. Natürlich, dass MS einmal heilbar ist.

Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft?
Ich informiere mich immer gerne über die Internet-Seite der Schweiz. MS-Gesellschaft. Zudem sehe ich über die Social Media Portale, wie sie sich an vielen Orten engagiert. Falls ich einmal einen Rat brauche, weiss ich auch, wo ich mich melden kann - und das gibt mir Sicherheit.

 


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