Gesichter der MS 2024: Ulrich Moser

Gesichter der MS

Ich heisse Ulrich Moser, Rufname Ueli, bin 66 Jahre alt, seit fast einem Jahr pensioniert und wohne in Kehrsatz bei Bern in einer kleinen Wohnung, die zum Teil umgebaut ist. Ich bin kein grosser Schreiberling, aber ich versuche es einmal.

In welchem Alter bekamst du die Diagnose MS? Geschah das sensibel oder «optimierungsbedürftig»?
Meine Diagnose habe ich im Mai 2009 erhalten, ziemlich abrupt bin ich da aus dem Leben gerissen worden. Mein Körper wollte gar nicht mehr. Und wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, hat dies schon in meinen jungen Jahren angefangen.

Was war dein allererster Gedanke nach der Diagnose MS? Was hast du danach getan?
Als ich dann die Diagnose MS bekommen habe, wusste ich gar nichts damit anzufangen, es waren zwei Buchstaben für mich und der leitende Arzt damals, mit seinem Arzt-Deutsch, hat es zwar irgendwie erklärt, aber trotz allem für mich unverständlich. Ich habe dann über Google Informationen eingeholt, hätte ich besser nicht gemacht, denn laut Google könnte man bereits tot sein. Aber mein wunderbarer Neurologe hat sich dann die Zeit genommen, um alles verständlich für mich zu machen.

Vom Zeitpunkt der Diagnose bis heute: Wie hat sich deine Einstellung zur MS verändert? 
Bis zu meiner Diagnose im Jahre 2009, hatte ich nie mit jemandem Kontakt, der auch MS hatte und auch ich hatte keine Ahnung von dieser Erkrankung. Am Anfang brauchte ich Hilfe, alleine wäre ich persönlich da nicht klargekommen. Heute ist das ein Teil von mir und die MS lebt mit mir und nicht ich mit Ihr.

Welche Symptome machen dir heute am meisten zu schaffen? Wie beeinflusst die MS deine Lebensqualität?
Ich musste mein Leben um 360 Grad drehen, die schleichende Verschlechterung über die Jahre hat mir jedes Mal aufs Neue Herausforderungen gebracht. Sei es auch nur, sich am Morgen anzuziehen, das ohne Hilfe. Oder den Tag zu planen, damit der Kräftehaushalt nicht zu sehr beansprucht wird. Viele Sachen, die für Menschen ohne Erkrankung selbstverständlich sind, sind für mich ab und zu ein Marathon.

Stichwort Therapien: Welche machst du, und wie kommst du damit zurecht?
Ich gehe mindestens ein Mal pro Woche in die Physiotherapie, versuche, wenn es der Tag erlaubt, noch ins Fitness zu gehen, damit ich wenigstens den Oberkörper noch einigermassen fit halten kann. Oder eben zuhause auf dem Motomed.

Gab es Entscheidungen, die du dich vor der Diagnose nie getraut hättest?
Was ich ziemlich schnell gelernt habe und auch musste, ist Nein sagen zu können. Schon meinem Körper zuliebe. Nicht für alle da zu sein oder zu helfen, war für mich am Anfang sehr schwierig

Gab es Menschen, die sich nach der Diagnose von dir abgewendet haben? Was würdest du ihnen heute gerne sagen?
Es gab viele Menschen, die sich von mir zurückgezogen haben. Solange Du funktionierst, bist Du gut. Es hat viel Kraft gebraucht, dies zu akzeptieren und ich bin froh, habe ich mich von diesen Menschen distanziert und neu gestartet. Ich habe in meinem neuen Umfeld so viele neue Freunde und Bekannte, die ich nie mehr missen möchte.

Gibt es Menschen, die dich besonders unterstützen? Von denen du das vielleicht gar nie erwartet hättest?
Ja, gibt es. Meine Freundin, die ich während der MS kennengelernt habe. Sie meint es immer gut, manchmal zu gut, dann muss ich auch mal sagen… «Stopp … Hallo … Ich kann das selber…». Ist aber ein Goldschatz, schön sie zu haben.

Wenn du in den Spiegel schaust: Was siehst du?
Dann sehe ich den Ueli, den Kämpfer, der sich trotz den zwei Buchstaben MS nicht entmutigen lässt. Klar ist es nicht immer einfach und hat schon viele Tränen gekostet, aber im Grossen und Ganzen bin ich trotz allem aufgestellt und irgendwie stolz, dass es Sachen gibt, die ich trotz allem schaffe. Und wenn ich mal nicht gut drauf bin, fahre ich mit dem Elektro-Rollstuhl in den Wald und geniesse die Ruhe oder schreie auch mal in den Wald hinein. Das tut gut, glaubt mir.

Gab es schon Situationen, in denen du dich für deine Krankheit rechtfertigen musstest?
Hat es auch schon gegeben, früher musste ich mich immer irgendwie rechtfertigen, sei es, weil ich nicht in den Ausgang wollte, oder wenn ich auf einen Behindertenparkplatz parkiere und auf meinen Beinen die Heckklappe öffne, um den Rollstuhl zu entladen. Aber heute kostet das mich ein Lächeln.

Was ist dein grösster Verlust durch die MS?
Dass ich keinen Sport mehr machen kann. Ich spielte leidenschaftlich Badminton. Oder auch in die Berge zum Wandern zu gehen oder Skifahren.

Hat dir die MS im Gegenzug etwas gegeben, was du vorher nicht hattest oder kanntest?
Durch die MS habe ich die Natur noch viel intensiver kennengelernt und viele neue tolle Freunde gefunden und lebe das Leben jeden Tag aufs Neue.

Gibt es eine Erwartungshaltung an MS-Betroffene, immer positiv und optimistisch zu sein? Wie gehst du damit um? 
Da ist jeder Betroffene anders, die Erwartungen sinken, das ist ganz normal. Wichtig ist, dir Hilfe zu holen, nicht erst, wenn du in einem Loch bist.

Hat die MS Konsequenzen für deine Partnerschaft/Beziehungen, emotional und körperlich?
Es ist nicht einfach eine Partnerschaft/Beziehung zu führen, ich rede da jetzt von mir, da ich sehr selten zeigen kann, dass ich Schmerzen habe oder auch müde bin, aber daran arbeite ich, ist aber ein sehr langer Prozess.

Die MS und deine Arbeit: Geht das gut? Oder gibt es Probleme?
Am Anfang der Diagnose, als ich endlich verstanden habe, was da alles auf mich zukommen könnte, hatte ich schon Angst um meine Stelle, aber dank dem, dass ich offen und ehrlich zu meinem Arbeitgeber war, durfte ich eine hohe Unterstützung geniessen, was nicht selbstverständlich ist. Und so durfte ich mit Arbeitsplatzanpassungen und vielem mehr, bis zu meinem 65. Lebensjahr arbeiten. Danke an meinen langjährigen Arbeitgeber und meine Arbeitskollegen. Ihr wart und seid auch super.

Gibt es so etwas wie eine goldene Regel fürs «MS-Outing»? Wie gehst du damit um?
Zu meinem Umfeld, sprich Freunde und Kollegen war ich immer offen und ehrlich, und das ist für mich das A und O für eine gute, gesunde Freundschaft und wird auch sehr geschätzt, glaube ich.

Spielen Ernährung und komplementäre Verfahren eine Rolle in deinem Leben mit MS?
Ich habe bis heute noch nicht so auf die Ernährung geschaut, ich esse gern. Aber seit ich Probleme mit dem Blutdruck habe, da ich doch zu wenig Bewegung habe, wird die Ernährung für mich doch ein Thema sein, das ich auch in der nächsten Reha noch in diesem Jahr erwähnen werde und versuche umzusetzen. Medikamente habe ich alle abgesetzt, da sie nichts geholfen haben.

Was ist für dich tabu bei deiner MS? Gibt es Dinge, über die du nicht einmal mit deinen engsten Vertrauten sprechen möchtest?
Am Anfang hatte ich da meine grosse Mühe damit, aber nach so vielen Jahren gehe ich damit sehr locker um, es ist nun mal so, und man kann es nicht ändern. Auch in der MS-Gruppe gibt es Themen, die wir durchgehen und es gibt viele, die dafür dankbar sind.

Welches sind die «Top 3» der Sätze, die du über MS nicht mehr hören kannst?
Du könntest dies und das noch nehmen. Du musst das versuchen und und und…

In der direkten Konfrontation mit Vorurteilen oder Irrtümern, wie reagierst du?
Am Anfang habe ich mich da heftig aufgeregt, aber heute nehme ich es gelassen, versuche zu korrigieren, wenn es jemand möchte oder lasse sie in ihrem Glauben, das sie es besser wissen.

Hattest du im Zusammenhang mit MS lustige oder traurige Erlebnisse?
Ich habe schon viel erlebt und gesehen. Traurig finde ich, wenn ich sehe, dass jemand Hilfe braucht und selber nicht helfen kann.

Wie entspannst du dich? Welchen Rat hast du für andere MS-Betroffene?
Lass dich nicht hetzen. Es ist keine Schande auch mal Nein zu sagen. Geniesse jeden Tag aufs Neue. Einen Rat zu geben ist manchmal schwierig, da jede und jeder anders auf die Erkrankung reagiert.

Hast du ein Hobby? Etwas, was dich total begeistert?
Hobbys ist bei mir schwierig, ich habe noch nichts gefunden, was mich wirklich begeistern würde.

Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft?
Ich hatte von Anfang an eine gute Beziehung zur MS-Gesellschaft, sie haben mich sehr gut unterstützt und offene Fragen wurden kompetent beantwortet. Ausserdem haben wir hier in der Region Bern einen MS-Mittagslunch jeden Monat, mit vielen tollen Menschen.


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