Gesichter der MS 2023: Esther Steinmann

Gesichter der MS

Ich bin Esther, 43 Jahre alt und arbeite als Lehrerin für integrative Förderung. Ich lebe alleine in einer kleinen behindertengerechten Wohnung in der Stadt Luzern.

In welchem Alter bekamst du die Diagnose MS? Geschah das sensibel oder «optimierungsbedürftig»?
Ich bekam meine Diagnose sechs Wochen, nachdem ich von zu Hause ausgezogen war und begonnen hatte, als Primarlehrerin zu arbeiten. Da war ich 21 Jahre alt. Nachdem weder mein Hausarzt noch der Augenarzt (erster Schub Augennerventzündung) einen Verdacht hatten und die Symptome wieder verschwanden, konzentrierte ich mich auf den Abschluss des Lehrerinnenseminars.

Als dann neu Gehprobleme dazu kamen, meldete ich mich bei einem bekannten Sportarzt zur Untersuchung an. Dieser guckte mich 5 Minuten an und verwies mich an einen Neurologen. Von da an ging es schnell. Nach den üblichen Untersuchungen war im Oktober klar, dass ich eine sekundär progrediente Multiple Sklerose habe. Mein Neurologe eröffnete mir die Diagnose auf eine ehrliche Art und ohne Prognosefantasien. Ausserdem hat er mich immer umfassend beraten und wenn nötig Zweitmeinungen eingeholt.

Was war dein allererster Gedanke nach der Diagnose MS? Was hast du danach getan?
Mein erster Gedanke war, dass ich wohl nie mehr Ski- und Bergtouren unternehmen werden kann und die Weiterbildung zur Expertin von J&S Wandern- und Geländesport ein Traum bleibt. Danach habe ich mich auf der Website der MS-Gesellschaft und im Worldwideweb über MS informiert und viel geweint. Ich habe gute Freunde und Freundinnen darum gebeten, einige Zeit bei mir zu wohnen, so dass ich nicht alleine war. Ausserdem hat mir mein Umfeld viel Kraft gegeben, auch mein Freund mit dem ich da erst 2 Jahre zusammen war und mit dem ich dann 21 Jahre meines Lebens verbracht habe. Er hat den Weg mit der MS mit mir zusammen unternommen. Ich bin dafür sehr dankbar.

Ich habe ab meiner Diagnose weiterhin als Lehrerin gearbeitet, habe mein Pensum aber auf 50% reduziert.

Vom Zeitpunkt der Diagnose bis heute: Wie hat sich deine Einstellung zur MS verändert?
Zunächst war ich einfach froh, dass es kein Krebs war und ich mir das Ganze nicht einbilde. Diese Krankheit hat also einen Namen. Das Erste, was ich für mich beschlossen habe, war, dass ich mich selbst bleibe. Das gelingt mir meistens. Coole Hilfsmittel helfen mir dabei. So habe ich schon lange einen Rollstuhl, der mich mobil macht, obwohl ich auch noch gehen kann.

Durch die jährliche Rehab lerne ich ganz viele andere Menschen mit MS und ihren persönlichen Umgang damit kennen. Durch die MS hat sich zwangsläufig meine Körperwahrnehmung intensiviert. Ich weiss, was mir gut tut, wann ich Pausen einlegen muss und dass ich das, was noch geht umso mehr geniesse. Und erstaunlicherweise ist sehr viel möglich (Leute, die mir helfen, Reisen mit ÖV, zugängliche Festivals,…). Ausserdem habe ich mehr Zeit als die meisten Menschen, über mich nachzudenken und meine Persönlichkeit durch Meditations- und Achtsamkeitstechniken weiterzuentwickeln.

Meine Einstellung zur MS ist nach wie vor: «Es ist, wie es ist und es kommt, wie es kommt.» Aus diesem Grund geniesse ich alles Schöne so sehr, als ob es das letzte Mal sein könnte.

Welche Symptome machen dir heute am meisten zu schaffen? Wie beeinflusst die MS deine Lebensqualität?
Die schwere Spastik in den Beinen und die dazugehörigen Nervenschmerzen beeinträchtigen mich am meisten. Daraus resultiert auch meine starke Einschränkung beim Gehen. Mir hilft kein gängiges Medikament gegen die schwere Spastik. Das Einzige, was meine Leiden lindert, ist Cannabis. Endlich tut sich da was, damit ich mich bald nicht mehr kriminell machen muss mit dem Kauf von Blüten auf dem Schwarzmarkt.

Meine Lebensqualität ist mein wichtigstes Gut geworden. Die zelebriere ich richtig, wann immer es geht: Mit guter Musik, schönen Erlebnissen, verständnisvollen Freunden und Freundinnen, feinem Essen, mal ein Glas Wein, Ferien im Tessin, viel Zeit mit der Familie, Zeit draussen in der Natur, Taichi  Qigong Tanzen, Singen,…

Stichwort Therapien: Welche machst du, und wie kommst du damit zurecht?
Meine Therapien und mein eigenes Training geben mir eine gute Struktur für die Woche. Ich gehe einmal pro Woche in die Physiotherapie und in die Hippotherapie. Ich trainiere zweimal High-Intensiv-Intervall im Treppenhaus und treffe mich einmal die Woche mit Freundinnen zum Taichi Qigong. Bei schönem Wetter spaziere ich meine 300 Meter im nahen Wald, mit den Wanderstöcken als Gehhilfe. Das Training hilft mir, deshalb mache ich das seit Jahren so seriös und regelmässig.

Ausserdem gehört seit 18 Jahren meine jährliche Rehab auch dazu. Dort lerne ich die neusten Methoden kennen, kann an den innovativsten Geräten trainieren und bin forschungstechnisch immer auf dem neusten Stand. Da sie mich in der Rehaklinik schon lange kennen und sie dort ein breites interdisziplinäres Angebot haben, werde ich jeweils sehr umfassend begleitet, auch nachhaltig über die Reha-Zeit hinaus.

Eine immunmodulierende Basistherapie ist bei mir aufgrund meiner Diagnose und Unverträglichkeit nicht angezeigt.

Dafür behandle ich meine schwere Spastik seit Jahrzehnten erfolgreich mit Cannabis. Wegen der Prohibition dieses hilfreichen Wirkstoffs musste ich mich bis 2014 absurderweise kriminalisieren und das Cannabis auf dem Schwarzmarkt besorgen. Seit es als Medikament zugelassen ist, beziehe ich die Tinktur und diese wird auch von meiner Krankenkasse bezahlt. Am effizientesten und am besten dosierbar ist das Medikament, wenn man es inhaliert (Rauchen, Vaporizer). Seit Januar 2023 ist es nun Apotheken in der Schweiz erlaubt, Cannabis in Blütenform abzugeben.

Gab es Entscheidungen, die du dich vor der Diagnose nie getraut hättest?
Wie oben erwähnt, hätte ich nicht geglaubt, dass ich mich dermassen strafbar machen muss, nur um an ein wirksames Medikament zu kommen. Ich bin ein so seriöser Mensch mit grosser Verantwortung und Vorbildfunktion als Lehrerin, dass ich all die Jahre in einem grossen Dilemma und in der ständigen Unsicherheit erwischt zu werden, gelebt habe. Das ist nun endlich bald vorbei.

Gab es Menschen, die sich nach der Diagnose von dir abgewendet haben? Was würdest du ihnen heute gerne sagen?
Ein paar meiner Bekannten waren wohl mit meinem schnellen und gnadenlosen Outing meiner Diagnose überfordert. Es ist mir dann gar nicht aufgefallen, dass sie sich von mir abgewendet haben. Ich hatte in dieser Zeit eigene Sorgen.

Gibt es Menschen, die dich besonders unterstützen? Von denen du das vielleicht gar nie erwartet hättest?
Mein engstes Umfeld hat mich am meisten unterstützt. Ich bekam auch Hilfe von mir fast oder gar unbekannten Menschen, die in besonderen Situationen einfach für mich da waren.

Wenn du in den Spiegel schaust: Was siehst du?
Ich sehe eine wundervolle, schlanke und gutaussehende Frau im besten Alter. Mein Körper sieht schön aus. Nur die schwere Bewegung, die fehlende Sensibilität, das mühsame Überwinden unnötiger Hindernisse und die dauernde Spastik und Schmerzen lassen mich ab und zu vor meinem Spiegelbild verzweifeln.

Gab es schon Situationen, in denen du dich für deine Krankheit rechtfertigen musstest?
Nein. Im Gegenteil. Zu Beginn habe ich manchmal meine Krankheit als Rechtfertigung für mein Fehlen oder meine Unlust für etwas eingesetzt. Das war aber nur eine kurze Phase des Lernens, bis ich mich besser einschätzen konnte.

Was ist dein grösster Verlust durch die MS?
Der grösste Verlust durch die MS ist für mich das Abhandenkommen der Selbstkontrolle, die Schwierigkeit, etwas vorauszuplanen, einfach schmerzfrei sein, gedankenloses loszumarschieren ohne Ziel und so weit, wie ich will und nächtelanges Durchtanzen an Konzerten und Partys….

Hat dir die MS im Gegenzug etwas gegeben, was du vorher nicht hattest oder kanntest?
Ich habe viel Zeit… Zeit zum Ausruhen, Meditieren, Lesen, Singen, Musik machen, Musik hören, Freundinnen treffen, Strategien überlegen, Achtsamkeit trainieren und ganz allgemein meine Persönlichkeit weiter zu entwickeln …und ich brauche auch viel Zeit. Für die Körperpflege, den Haushalt, das Benützen von Hilfsmitteln, das Trainieren, jede einzelne Bewegung ist langsam – anstatt mich darüber zu ärgern, übe ich mich in Geduld und darin bin ich schon ziemlich gut ;-)

Gibt es eine Erwartungshaltung an MS-Betroffene, immer positiv und optimistisch zu sein? Wie gehst du damit um? 
Ich kümmere mich nicht um gesellschaftliche Erwartungshaltungen.

Hat die MS Konsequenzen für deine Partnerschaft/Beziehungen, emotional und körperlich?
Natürlich! Sowohl körperlich wie emotional ist MS ein Teil von mir. Meine Partner müssen sich wohl oder übel damit auseinandersetzen.

Die MS und deine Arbeit: Geht das gut? Oder gibt es Probleme?
Zum Glück habe ich kurz vor meiner Diagnose schon als Lehrerin zu arbeiten begonnen. Dies ist, seit ich denken kann, meine Berufung. Ich habe nach der Diagnose mein Pensum auf 50% reduziert und eine halbe IV-Rente beantragt. Ich habe dann noch das Weiterbildungsstudium «MAS integrative Förderung» absolviert und arbeite seither als schulische Heilpädagogin auf der Sekundarstufe und in der Primarschule. Ich habe mein Arbeitspensum nach 15 Jahren auf 40% und vor drei Jahren auf 30% reduziert

Gibt es so etwas wie eine goldene Regel fürs «MS-Outing»? Wie gehst du damit um?
Wie oben erwähnt, habe ich mein Outing sofort und sehr offensiv gemacht. Ich habe in einem kleinen Dorf als Lehrerin gearbeitet und hatte die Kinder aller Klassen in meinem Unterricht. Deshalb ging ein Elternbrief ans ganze Dorf mit der Bitte, sich doch von den Kollegen zu informieren. Ich war dann durch die Kortisontherapie weg und hatte eine Stellvertretung. Im Nachhinein bin ich froh, dass von Anfang an für alle um mich rum klar war, dass ich MS habe. Einige Leute habe ich wohl mit meinem Vorgehen vor den Kopf gestossen. Ich habe das aber nie als mein Problem angesehen.

Eine goldene Regel gibt es nicht. Jede Person ist in einem ganz anderen Setting und muss ihren eigenen Weg damit finden.

Spielen Ernährung und komplementäre Verfahren eine Rolle in deinem Leben mit MS?
Meine Physiotherapeutin behandelt mich auch mit energetischer Körperarbeit und Akupressur. Das ergänzt die «normale» Physio super und hat mir dabei geholfen meinen Körper mit der MS besser zu verstehen. Sie hat mir auch Shibashi beigebracht. Das ist eine Form von Taichi Qi-Gong. Das ist eine schöne Art sich zu bewegen, es ist meditatives Tanzen. Ich übe das schon seit 15 Jahren, habe eine Ausbildung gemacht und gebe jetzt selbst Kurse.

Ich ernähre mich ganz normal, gesund und ausgewogen. Es ist mir wichtig das Essen selbst zuzubereiten und keine Fertigprodukte zu verwenden. Das würde ich auch so machen, wenn ich gesund wäre.

Was ist für dich tabu bei deiner MS? Gibt es Dinge, über die du nicht einmal mit deinen engsten Vertrauten sprechen möchtest?
Nein, da gibt es für mich keine Tabus. Offen über alles, betreffend die MS zu reden, habe ich in der Rehab gelernt. Wir treffen uns da abends jeweils am Stammtisch des öffentlichen Restaurants und reden und beratschlagen uns tabufrei von Zystofix über erotische Probleme, von Ernährung zu Erfahrungen mit Medikamenten und Ärzten, über Sorgen, wir tauschen auch lustige Anekdoten aus und machen unser grosses Wissen schwellenfrei füreinander zugänglich.

Welches sind die «Top 3» der Sätze, die du über MS nicht mehr hören kannst?
Von Ahnungslosen: «Ah, das ist die Krankheit mit den tausend Gesichtern.» (ich stelle mir dann immer irgendwie Tinder, Facebook oder ein Coiffeur-Heftli vor).

Von Ärzten: «Nehmen Sie doch dieses immunmodulierende Medikament. Es hat 70% Chancen, dass ihre MS vielleicht ein wenig weniger schnell vorwärtsschreitet.» Von den immensen Nebenwirkungen, den absurd hohen Preisen und dem riesigen Aufwand für die Patientin spricht niemand.

Von der Pharmaindustrie: «Dieses Medikament (bei dem niemand weiss, ob es überhaupt wirkt) ist so teuer, weil die Forschung so viel kostet.»

In der direkten Konfrontation mit Vorurteilen oder Irrtümern, wie reagierst du?
Humorvoll bis schwarz zynisch, wenn ich keine Lust habe, überhöre ich Vorurteile und Irrtümer.

Hattest du im Zusammenhang mit MS lustige oder traurige Erlebnisse?
Ich habe im Zusammenhang mit der MS viele lustige, tiefe, interessante und spannende Erlebnisse. So wie sie das Leben schreibt. Und auch traurige. So durfte ich zwei Freunde mit MS sehr nah begleiten, als sie sich dafür entschieden haben, mit Exit zu gehen.

Wie entspannst du dich? Welchen Rat hast du für andere MS-Betroffene?
Ich entspanne mich am besten mit Musik (spielen, singen, hören, tanzen), Shibashi (Tai-Chi Qi-Gong) und gutem Sex. Wenn kein Partner da ist, auch gerne mal als gebuchte Tantra Massage. Ausserdem hilft mir dabei Cannabis auch sehr gut!

Hast du ein Hobby? Etwas, was dich total begeistert?
Musik ist mein Leben! Und ich engagiere mich stark für Inklusion in der Bildung, setze mich für die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention ein, gehe für feministische und ökologische Anliegen auf die Strasse. Ich kämpfe schon lange für die Legalisierung von Cannabis und schreibe ein Buch über meine langjährige Erfahrung damit. Ich geniesse gutes Essen, feinen Wein, schönes Wetter und wunderbare Menschen. Das lässt mich die immer zahlreicher werdenden Momente von Schmerzen und Ohnmacht immer wieder vergessen…

Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft?
Ich bin Mitglied der Schweizerischen MS- Gesellschaft und war schon an einigen Anlässen. Einmal war ich an der GV im Verkehrshaus in Luzern und habe ganz am Anfang der Diagnose den Dienst der Sozialberatung in Anspruch genommen.


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