Ich heisse Jana Worobjew, bin 48 Jahre alt. Ich habe hier grösstenteils in der Hotellerie gearbeitet. Angefangen habe ich als Rezeptionistin und mich zur Leiterin Beherbergung hochgearbeitet. In den ersten Wintermonaten habe ich als Veranstaltungsassistentin in einem Davoser Hotel die Events während des WEF organisiert.
Mein grösstes Highlight war das persönliche Treffen mit Nelson Mandela. Seine Geschichte und sein Charisma waren atemraubend.
Ich komme ursprünglich aus Deutschland und lebe seit über 25 Jahren hier in der schönen Schweiz. Ich habe neun Jahre in Ennetmoos gewohnt und dann meine grosse Liebe getroffen und bin nach Stans gezogen. Wir waren elf Jahre zusammen und haben fast die ganze Welt bereist, auch mit MS und Rollstuhl. Leider übersteht nicht jede Beziehung die MS und die entsprechenden Symptome. Deshalb kann ich nur jedem Paar ans Herz legen, von Anfang an offen über die MS zu reden. Wir haben es leider nicht getan.
Seit 2 1/2 Jahren lebe ich nun alleine in Stans in einer traumhaften, zentral gelegenen rollstuhlgängigen Wohnung und bin so richtig glücklich. Gerade während Corona habe ich gemerkt wie wichtig ein schönes Zuhause ist, in dem man sich pudelwohl fühlt und in dem man auch gerne Gäste empfangen kann, weil man dieses Zuhause so schön gemacht hat. Ich habe hier einen grossen guten Bekanntenkreis und wahnsinnig tolle Freunde. Meine Familie (Eltern und Bruder) leben noch in Berlin. Meine Eltern kommen mich oft besuchen und auch ich fahre mindestens einmal im Jahr nach Hause.
Ich beziehe seit 2014 IV-Rente. Für mich war es schwer nach dem IV-Entscheid nicht mehr arbeiten zu gehen. Von 120 % auf 0% …keine Aufgabe, kein Feedback… was mache ich nun mit all meiner Erfahrung und dem Wissen? Das Leben geht weiter, nur eben anders. Seit 2014 arbeite ich in Stans in dem Projekt Alter 2030 mit und wir setzen uns für eine altersgerechte Gemeinde ein. Gerade im öffentlichen Raum kann ich Hindernisse gut nachvollziehen und erkennen. Ich habe ja alles durch… Stock, Rollator, Rollstuhl. Für den Kanton erfasse ich zum Thema Alter die Bevölkerungsfragebögen und habe mittlerweile ein sehr gutes Verständnis und Wissen zu Altersfragen.
Im Gegenzug arbeite ich seit Januar im Ferienpass Nidwalden mit und helfe bei der Organisation von Anlässen für Kinder in der Ferienzeit mit. Kinder sind sooo offen, ehrlich und unvoreingenommen gegenüber mir im Rollstuhl. Bei den Kindern beginnt Inklusion.
Wie würde dich deine beste Freundin/dein bester Freund in ein, zwei Sätzen beschreiben?
(Diese Frage hat meine Freundin beantwortet und ich lasse sie einfach so stehen.) Liebt schöne Dinge, vom Essen, Wein bis Interieur. Hat einen sehr guten Geschmack. Kann gut zuhören und ist eine tolle Gesprächspartnerin. Hat ein grosses Allgemeinwissen und ist sehr interessiert und gut informiert.
Welche 3 Dinge kannst du richtig gut?
Organisieren… mein Leben, Ausflüge, Reisen, Feiern. Zuhören… für andere da sein, offen sein für die Sorgen anderer. Und Schreiben… mich schriftlich ausdrücken, egal ob Urlaubskarten, Glückwunschkarten, Reiseberichte, Anträge, Zeugnisse. Eigentlich möchte ich gerne mal ein Buch schreiben.
Für welche 3 Dinge hast du null Talent?
Singen. Wichtigkeiten… ich mache fast immer zuerst das, was mir Spass macht und dann das andere. Und Geduld… vor der MS ging alles schneller! Daran, dass nun alles langsamer ist, vom Therapieerfolg über Anziehen bis hin zum Laufen und Essen mit Messer und Gabel, habe ich mich noch nicht gewöhnt. Und das werde ich wohl auch nicht…
Du darfst für 24 Stunden in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen. Wer wolltest du sein? Und warum?
Astronautin auf der Raumstation ISS … einfach schwerelos auf die Erde blicken.
Umgekehrt: Wer sollte mal einen Tag lang dein Leben mi MS führen? Warum?
Oh nein! Das wünsche ich niemandem. Aber wenn, und nur für ein paar Stunden, dann wäre es mein Ex-Partner. Nur damit er merkt, wie schwer es ist, sich in einem Körper mit MS zu bewegen.
Wie und in welchem Alter wurde dir die Diagnose MS vermittelt?
2010 mit 35 Jahren. Ich konnte einfach nicht mehr auf Absatzschuhen laufen. Und das konnte ich wirklich gut. Bin sehr oft umgeknickt und dachte immer, es liegt an den Schuhen und habe mir dann einfach neue gekauft. Als dann auch Stürze und Knieschmerzen dazukamen, habe ich das untersuchen lassen. Die Diagnose war dann recht schnell gestellt.
Wie hast du dich bei der Neudiagnose über MS informiert?
Ehrlich gesagt, nicht gross. Ich habe es am Anfang verdrängt und viel hat mir mein Osteopath/Physiotherapeut erzählt. Deshalb hatte ich auch nie Angst vor der MS, weil er sie mir genommen hat. Und meine Neurologin. Beide sind auch heute noch sehr wichtig für mich! Der Austausch mit anderen Betroffenen in meiner ersten Reha in Valens hat mich gelehrt, offen mit der Diagnose umzugehen. Ich war nicht mehr «allein».
Was waren deine ersten MS-Symptome? Welche bestimmen deinen Alltag heute?
Eben, das Laufen auf Absatzschuhen und dann die Fussheberschwäche links. Damit begannen dann die Hilfsmittel. Nordic Walking-Stöcke, Fussheberschiene, BioNess, Rollator, Rollstuhl und der Hilfsantrieb für den Rollstuhl.
Meine linke Hand ist nicht mehr so feinmotorisch. Deshalb ist das Essen mit Messer und Gabel nicht mehr möglich. Das ist übrigens das Schlimmste für mich an der MS. Wenn man aus der 5-Sterne-Hotellerie kommt und es liebt, fein Essen zu gehen, aber sich am Tisch nicht mehr adäquat benehmen kann, ist das für mich schlimm. Ich liebe es mit Kollegen Essen zu gehen und zu reden und immer nur Suppe oder vegetarisch zu essen macht keinen Spass.
Wie stark hat die Diagnose MS deine Lebenspläne und -ziele verändert?Sehr stark. Eigentlich hat die MS alles über den Haufen geworfen. Die Arbeit in meinem Traumjob war nicht mehr möglich. Wie soll ich Gastgeber sein, wenn ich nicht mehr laufen und präsentieren kann. Aber da mein Glas immer halbVOLL ist, haben sich neue und sogar bessere Möglichkeiten für mich ergeben.
Was ist dein grösstes Learning vom Leben mit MS?
Das Leben geht weiter, nur anders!
Wenn du gegenüber einer Person sitzen würdest, die gerade kürzlich die Diagnose MS erhalten hat: Was würdest du ihr sagen?
Das Wichtigste beim Umgang mit der MS ist: Glücklich sein und keine Angst haben.
Hast du Angst vor Benachteiligung – im Beruf, in Beziehungen, in Freizeitvereinen – wenn du mit deiner Diagnose offen umgehst? Oder hast du sogar schon Benachteiligung erlebt?
Ich gehe mittlerweile sehr offen mit der Diagnose um, da das sehr viel Druck von mir nimmt. Meine MS sieht man ja, da muss ich nichts verstecken. Ich habe gleich nach der Diagnose meine damalige Direktion im Hotel informiert. Da haben die 14 Jahre vollen Arbeitseinsatz plötzlich nicht mehr gezählt und ich wurde ziemlich fallen gelassen. Das war das einzige Mal, wo ich Benachteiligung erfahren habe. Alle späteren Arbeitgeber reagierten mehr als positiv auf mich und mein «kleines» Handicap. Sogar bei der Wohnungssuche war die Reaktion der Wahnsinn: «Oh, dann kommen Sie aber nicht in die Dusche? Dann bauen wir die für Sie um und machen gleich einen bodenebenen Zugang zum Balkon. Brauchen Sie noch etwas?». Ist das nicht toll?!
An nicht so guten Tagen: wer oder was gibt dir Mut und Hoffnung?
Der nächste Tag wird wieder besser.
Nimmt unsere Gesellschaft deiner Erfahrung nach genügend Rücksicht auf Personen mit MS?Was würdest du dir von nicht Betroffenen wünschen?
Ich wünsche mir mehr Barrierefreiheit im öffentlichen Raum. Aber hier wird schon viel getan… einfach dranbleiben. Und ich denke, dass es für Nichtbetroffene auch sehr schwer ist, mit einem Handicap umzugehen. Da ist sehr viel Unsicherheit. Wir sollten einfach alle ein wenig offener miteinander umgehen.
Welche 3 deiner Eigenschaften sind für das Leben mit MS hilfreich?
Optimismus, Unternehmensfreude und Offenheit.
Welche 3 deiner Charakterzüge machen es eher schwierig?
Ich bin nicht sehr risikofreudig. Ich würde es nicht ängstlich nennen, sondern eher übervorsichtig. Hilfe annehmen und um Hilfe bitten ist schwer. Aber ich werde darin immer besser.
Hast du manchmal schlaflose Nächte? Was raubt dir den Schlaf?
Oh nein. Ich schlafe sehr gut und auch gerne mal länger. Ich habe ehrlich gesagt eine blühende Fantasie, die mich immer in eine tolle Traumwelt katapultiert.
Gibt es Momente, in denen du die MS vergessen kannst?
Ja, sehr, sehr oft. Wenn ich mit Freunden und Familie unterwegs bin und wenn mir meine Arbeitsprojekte so viel Spass machen, dass ich vergesse, mir nicht die ganze Woche mit Terminen zuzupacken.
Beim Flirten oder beim Date: Ist man als MS-Betroffene/r zurückhaltender? Gibt es einen «guten» Moment, die MS-Erkrankung zu outen?
Das ist für mich jetzt schwierig zu beantworten. Bei mir sieht man es ja durch Rollstuhl und Rollator. Und als ich die Diagnose bekommen habe, war ich ja mit meinem Ex-Partner schon zusammen.
Was wolltest du schon immer mal machen? Was hat dich davon abgehalten?
Mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren. Als ich damals die Gelegenheit hatte, habe ich im Hotel nicht frei bekommen. Dann wollte ich mit meinem Ex fahren, aber er meinte damals zu Recht: «Jana, Zug fahren können wir, wenn wir alt sind.» Tja, ich bin noch nicht alt, aber die Transsibirische ist nicht rollstuhlgängig.
Du darfst als Gastgeber/in eines Galadinners 3 beliebige Menschen einladen. Wer wäre das und warum?
Meine Mädels! Wir hätten mega Spass und würden uns so richtig aufbrezeln.
Du kannst mit einer Zeitmaschine an einen beliebigen Punkt in der Zukunft reisen: Welcher wäre das und warum?
100 Jahre nach vorn. Es wäre spannend zu sehen, wie wir dann leben und wie weit die Technik vorangeschritten ist.
Und jetzt das Ganze anders herum: du kannst in die Vergangenheit reisen. Welches Ereignis/Jahr/Tag würdest du wählen? Und warum?
10. September 2001 … und ich hätte gehofft, dass man mir zuhört und ich den 11. September verhindern kann. Die Welt war nicht mehr die Gleiche danach.
Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft? Gibt es Wünsche, die du an die Schweiz. MS-Gesellschaft hast?
Die Schweizerische MS Gesellschaft hat mich in vielen Dingen sehr hilfreich unterstützt. Ich war sehr dankbar über das alte, sehr aktive Forum zum Austausch mit anderen Betroffenen. Ich wünsche mir mehr Aufklärung zur MS. Das Video zum Welt MS Tag 2022 war super!!!! Bitte mehr davon.
Immer gesucht: Neue Gesichter der MS
- Du liest und magst unsere Portrait-Serie «Gesichter der MS»?
- Du und deine MS, ihr habt eure ganz eigene Geschichte?
- Du möchtest sie erzählen, um anderen Mut zu machen? Und
- Du willst ihnen zeigen, dass sie nicht alleine sind?
Dann schreib uns eine Mail mit dem Betreff «Gesichter der MS» an: redaktion@multiplesklerose.ch
und wir schicken dir zum Kennenlernen ganz unverbindlich den jeweils aktuellen Portrait-Fragebogen zu. Du kannst dann in aller Ruhe überlegen, ob du mitmachen möchtest.
Liebe Grüsse, deine Redaktion
P.S. Du magst/kannst nicht mitmachen, kennst aber jemanden, der gerne dabei wäre? Dann erzähl’ es einfach weiter…