Gesichter der MS 2021: Martina Külling

Gesichter der MS

Ich heisse Martina Külling, bin 45 Jahre alt, Mutter eines 27-jährigen Sohnes und wohne in Arlesheim. Ich bin seit März 2020 nicht mehr berufstätig. Bis 2016 arbeitete ich über 20 Jahre als Lastwagen-Chauffeuse. Von 2017 bis 2019 absolvierte ich die Handelsschule.

Was bedeutet MS für dich? 
Auf einer der einen Seite ist es ein Segen. Weil ich «dank» der MS neue Werte im Leben entdeckte. Auf der anderen ist es ein Fluch. Mir wurde mein geliebter Beruf genommen. Habe nur noch halb so viel Energie wie vorher. Es war eine unfreiwillige Wandlung meines Lebens.  Bin auf Hilfe von Aussen angewiesen. Damit habe ich grosse Mühe. Bin seit meinem 20. Lebensjahr auf eigenen Beinen gestanden. Existenzängste.

Wie lange bestanden bei dir schon die Symptome vor der Diagnose?
Seit über 20 Jahren. Dies wurde aber erst klar, als ich diese Diagnose bekommen habe.

Wie und in welchem Alter wurde dir die Diagnose MS vermittelt?
Nachdem ich jahrelang wegen diversen Problemen behandelt wurde, die aber so wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht sind, wurde ich zu einem Neurologen überwiesen. Nach weiteren Untersuchungen erhielt ich im September 2016 diese Diagnose von ihm.

Was war dein erster Gedanke nach der Diagnose MS?
Ist das übertragbar auf meinen Sohn? Werde ich nie mehr Lastwagen fahren dürfen? Da ich mich vorher nie mit dieser Krankheit auseinandergesetzt habe, beschäftigten mich hauptsächlich diese zwei Fragen.

Welche Symptome machen dir am meisten zu schaffen?
Kribbeln in Armen und Beinen, nicht mehr Multitasking-fähig zu sein, dass ich an manchen Tagen sehr schlecht sehe, fehlende Feinmotorik, das Fatigue Syndrom, Darmschwäche.

Wo behindern dich die Symptome im Alltag, wie beeinflusst die MS deine Lebensqualität?
Kann wegen meiner Darmschwäche nicht mehr spontan aus dem Haus. Muss morgens immer zwei Stunden  früher aufstehen, wenn ich weggehen will. Mein Kopf ist wie in zwei Teile geteilt. Die eine Hälfte plant wie früher. Die andere kann nicht alles ausführen.

Hast du deine Diagnose kommuniziert?
Ja. Sofort.

Wenn nein, warum nicht? Was waren Befürchtungen oder Gründe? Was würdest du anderen Menschen mit einer Neudiagnose heute empfehlen?
Sie sollen es kommunizieren. Manche Symptome der MS sind nicht sichtbar und darum auch für die Umwelt schwer oder falsch verständlich.

Kennst du vielleicht MS-Betroffene, die sich bewusst «nicht outen». Weisst du , warum sie das nicht tun?
Jemand hat es vor allen geheim gehalten. Sogar vor Ehefrau und Kindern. Aus Angst vor der Reaktion darauf.

Wie könnte die MS-Gesellschaft diese Menschen unterstützen?
Meldet man sich bei der MSG, wird einem geholfen. Den Schritt dahin muss man allerdings selbst machen.

Wie, die Schweizerinnen und Schweizer?
Wenn ihr mehrere Leute kennt mit MS, wisst ihr bestimmt: Es ist die Krankheit mit den 1000 Gesichtern. Vergleicht die Menschen nicht. Verbreitet keine Horrorgeschichten. Gebt keine «gratis Tipps». Kann mir vorstellen, dass manche Menschen dann lieber nicht zu ihrer Krankheit stehen.

Was ist für dich tabu bei deiner MS?
Mich davon unterkriegen zu lassen.

Gibt es Dinge, über die du nicht einmal mir deinen engsten Menschen sprechen möchtest?
Manchmal, auch wenn ich es nicht gerne zugebe, ist für mich diese Krankheit schwer erträglich. Zum Beispiel dann, wenn ich nichts gegen meine Schmerzen machen kann. Dann bin ich am liebsten allein.

Gibt es umgekehrt Dinge, die dein Umfeld gar nicht wissen möchte?
Ist mir nichts bekannt.

Wie geht dein privates Umfeld, also Familie, Freunde, Partner, mit deiner Krankheit um?
Sehr gut. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Umfeld kann besser mit meiner Krankheit umgehen, als ich selber.

Hast du Kinder? Wie gehen sie damit um?
Mein Sohn ist erwachsen. Manchmal macht er sich Sorgen. Wir reden offen miteinander.

Wie bekommst du/mit deinem Partner Kinder und Beruf unter einen Hut?
Partner und Beruf habe ich nicht. Mein Sohn steht auf eigenen Beinen.

Hat sich aus deiner Sicht in den letzten Jahren etwas verändert in der Gesellschaft oder Politik gegenüber chronisch kranken Menschen?
Das kann ich nicht beurteilen. Bin erst seit 5 Jahren betroffen.

Was ist vielleicht besser oder schwieriger geworden?
In meinen Augen hat Corona einen Vorteil. Plötzlich sind noch andere Menschen vom Fatigue-Syndrom betroffen. Es wird viel thematisiert. Vielleicht oder hoffentlich wird es besser akzeptiert und verstanden.

Welches sind die grössten Vorurteile oder Irrtümer, mit denen du als MS-Betroffener konfrontiert wirst?
Weil man mir nichts ansieht, habe ich auch nichts.

Wie gehst du damit um, was erträgst du am wenigsten gut?
Das hängt von meiner Tagesverfassung ab. Das Schlimmste sind für mich abschätzige Röntgen-Blicke. Wenn man dem Gaffer ansieht wie er oder sie sagen will: «Du hast nichts. Bist nur zu faul um arbeiten zu gehen. »

Wo siehst du den Beitrag der Schweizerischen MS-Gesellschaft zur Enttabuisierung der MS oder zur Stärkung der Solidarität?
Die MS-Gesellschaft öffnet der Bevölkerung die Augen. Mit Aktionen in der Öffentlichkeit und Auftritten in den Sozialen Medien. Es werden gesunde und kranke Menschen vereint.

Wie entspannst du dich?
Spazieren mit dem Hund, Backen, Briefe und Geschichten schreiben, liebe Menschen treffen, Musik hören.

Welchen Rat hast du für andere MS-Betroffene?
Höre in dich hinein. Was stimmt für dich? Lass die anderen reden, ohne dich davon beeinflussen zu lassen.

Was macht dir in Bezug auf deine MS Angst?
Noch mehr abhängig zu werden. Existenzängste.

Was gibt dir in Bezug auf deine MS Hoffnung?
Mein soziales Umfeld - und dass ich gelernt habe, immer nach dem Positiven zu suchen. Bin schon sehr gut geübt darin. Finde fast immer gute Seiten. Auch an unschönen Gegebenheiten.

Wenn Du morgen zum « Minister für Forschung gegen die MS» ernannt wirst, was sind deine ersten 3 Massnahmen?
Ich stelle den Forschern die gleichen finanziellen Mittel zur Verfügung, die auch in der Krebsforschung vorhanden sind. Einfachere Zulassung neuer Medikamente. Zum Beispiel Hippotherapie nicht erst bezahlen, wenn der Patient nicht mehr mobil ist.

Welche positiven Gedanken verbindest du mit den Begriffen Forschung und MS?
Sie geht schnell voran. Neue Medikamente kommen auf den Markt.

Welche Gefahren siehst du für den Bereich Forschung und MS?
Sehe ich keine.

Verfolgst du Informationen zur Entwicklungen in der Forschung? Aus welchen Quellen?
Intensiv verfolge ich es nicht. Lese Beiträge der MS-Gesellschaft. Im Magazin Forte oder auf Facebook.

An welchen Forschungsthemen bist du besonders interessiert?
Neue Medikamente, Früherkennung.

Welche Frage(n) wolltest du einem MS-Forscher schon immer mal ganz direkt stellen? Raus damit. 
Wie lange wird es noch dauern, bis MS heilbar wird?

Wo in deinem Alltag sollte die MS-Forschung ganz speziell positive Veränderungen ermöglichen?
Schmerzbekämpfung. Wohnungsbau.

Hattest du im Zusammenhang mit MS lustige und/oder traurige Erlebnisse?
Mir passieren immer wieder komische Dinge wegen der MS. Bin schusseliger und tapsiger geworden. Tja, kann manchmal auch peinlich sein. Humor ist, wenn man trotzdem lacht!

Welchen Satz über MS kannst du nicht mehr hören?
Das ist nicht so schlimm.

Wenn deine MS ein Tier wäre, welches und warum?
Ein Biber. Weil sie an mir nagt.

An was hängt dein Herz?
An meiner Familie, den Freunden und dem Hund.

Ein Satz für deine Liebsten?
Danke, danke, danke und nochmal danke. Weiss nicht, wie ich ohne euch klar kommen würde. Ihr seid da, ob ich lache oder weine.

Ein Satz für deine «Feinde»?
«Schnauze halten, wenn keine Ahnung! Hirn einschalten erlaubt.»

Dein Lebensmotto?
Glück ist das Einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt.

Dein Lieblingsbuch? Lieblingsfilm? 
Keine dieser Fragen kann ich mit einer einzigen Antwort beantworten. Mal so mal so. Je nach Stimmung. Lieblingsessen? Cordon bleu, frisches Brot.

Gegen den MS-Blues?
Raus gehen. Dem Bach zuhören und schauen. Manchmal hilft auch weinen, Begegnungen mit andern Hundehaltern (das Thema Krankheit kann leicht «umschifft» werden).

Wenn du 3 Wünsche an die gute Fee frei hättest – für dich, die Welt, für wen und was auch immer: Welche wären das?
Für mich: Dass ich gesundheitlich stabil bleibe. Für jeden: Die Fähigkeit, sich auch über kleine Dinge zu freuen, anstatt sich über Sachen zu ärgern, die man nicht ändern kann. Wünsche jedem Glück wo er oder sie  es braucht!

Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft?
Ihre Sozialarbeiter stehen mir mit Rat und Tat zur Seite. Danke!


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