Geschlechtsunterschiede bei MS-Verlaufstherapien

Fachartikel

Die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft unterstützt Forschungsprojekte im Bereich der MS mit erheblichen Mitteln. So auch ein Projekt, das untersucht, ob es bei bestimmten MS-Verlaufstherapien bei Männern und Frauen Unterschiede in Wirksamkeit und Nebenwirkungen gibt.

Unser Projekt

Durch zahlreiche neue MS-Verlaufstherapien (sogenannte «Disease Modifying Therapies» DMT) ist die Multiple Sklerose (MS) eine Erkrankung mit zahlreichen individuellen Behandlungsmöglichkeiten geworden.

Hierdurch ist die Auswahl und Steuerung der DMT im Sinne einer «personalisierten Medizin» von zunehmender Bedeutung. Ansätze dieser Art, die prüfen, auf welche Therapie eine Person potentiell am besten anspricht, sind zum aktuellen Zeitpunkt deutlich unterentwickelt – insbesondere in Bezug auf den Einfluss des Geschlechts.

In unserer Studie untersuchten wir die Therapieklasse der S1P-Rezeptor-Modulatoren (S1PRM). Wir konnten zeigen, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Schubs nach Beginn mit Fingolimod – dem «ältesten» der S1PRM-Medikamente – bei Frauen etwas höher ist als bei Männern, insbesondere bei jüngeren. Eine mögliche Erklärung könnten Geschlechtsunterschiede in den Blutspiegeln des Botenstoffs «Sphingosin-1 Phosphat» (S1P) sein. Dieser Botenstoff spielt eine Rolle bei der «Lenkung» der Immunzellen zu Entzündungen im Nervensystem, und es wird durch Medikamente der S1PRM-Klasse (wie Fingolimod) blockiert.

Der S1P-Spiegel scheint durch hormonelle Einflüsse (Östrogen) bei Frauen vor der Menopause erhöht. In einer ersten Untersuchung prüften wir deshalb die S1P-Spiegel von 43 Patienten und Patientinnen, wobei sich bisher keine Geschlechts- oder Altersunterschiede im S1P-Spiegel zeigten. Auch der Östrogen- und der Blutspiegel des Menopause-anzeigenden Hormons «AMH» hatte keinen Einfluss.

Wir untersuchten deshalb in einem zweiten Schritt die geschlechtsabhängige Wirksamkeit der sogenannten S1P-Rezeptoren (S1PR) auf den Immunzellen. Hier konnten wir in einem Krankheitsmodell bei Mäusen, der sogenannten «Experimentellen Autoimmunenzephalomyelitis» (EAE), zeigen, dass Fingolimod bei weiblichen Mäusen leicht schlechter wirksam ist als bei männlichen Mäusen.

Als mögliche Ursache zeigt sich eine verstärkte Ausbildung (=Expression) von S1P-Rezeptoren auf den Immunzellen (T-Zellen) der weiblichen Mäuse in Entzündungsstellen, wobei die S1P-Rezeptoren ja die Zielstruktur der S1PRMs sind. Die geschlechtsabhängigen Unterschiede in der Expression von S1PR könnte eine Ursache der beobachteten Wirksamkeitsunterschiede sein.

Eine relevante «Nebenwirkung» von S1PRMs, insbesondere bei Fingolimod, ist das Auftreten von schweren Schubereignissen nach Absetzen oder Pausieren der Therapie, man hier spricht hier von den sogenannten «Rebound-Schüben», also überschiessend starken MS-Schüben nach Therapieabbruch. Epidemiologische Daten zeigen, dass diese ebenfalls bei Frauen unter Therapie mit S1PRM ein erhöhtes Risiko im Vergleich zu Männern aufweisen.

Dies konnten wir mithilfe einer öffentlich zugänglichen Datenbank von Nebenwirkungs-Meldungen bestätigen. In mehreren EAE-Versuchen konnten wir zudem «Rebound-Schübe» experimentell darstellen. Diese waren ebenfalls bei weiblichen Mäusen häufiger/schwerer als bei männlichen. Wir konnten hier eine verstärkte Wirkung von S1PR auf den Immunzellen der weiblichen Mäuse beobachten. Dies ist insoweit plausibel, als das eine «überschiessende» Re-Expression der S1PR bei zuvor bestehender Blockade durch die S1PRMs ursächlich für ein überschiessende Immunantwort nach Absetzen sein könnte.

Zusammenfassend untersuchen wir in diesem von der Schweiz. MS-Gesellschaft geförderten Projekt Geschlechtsunterschiede in Wirksamkeit der S1PRM und der spezifischen Problematik der Rebound-Schübe, wobei wir uns aktuell speziell die Rolle der S1PR interessieren. Diese Forschung kann in Zukunft in Auswahl und Steuerung von Therapien wie S1PRMs helfen.

Meine Motivation

Mit Hilfe unserer Forschung möchten wir praxisrelevante und in der Behandlung anwendbare Fragen beantworten. Auch wenn es zahlreiche zugelassene und laufend neue Therapieoptionen gibt, steckt die Entwicklung einer personalisierten Medizin in Bezug auf die MS noch in den Kinderschuhen - unter anderem für einfache «Tatsachen» wie das biologische Geschlecht der MS-Betroffenen. Die Arbeit an solchen Projekten motivieren mich – als Wissenschaftler und Neurologe.

Studienteam

Dr. Maximilian Pistor, Marine Massy, PD Dr. Robert Hoepner
Inselspital Bern, Neurologie

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