FORTE Special: Brüllender Nachteilsausgleich

MS-Geschichten

Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt da, um Ihnen von meinem Löwen zu erzählen. Er war imposant und schön und majestätisch mit seiner mächtigen Mähne, mein Löwe. So richtig Löwe halt. (Weniger majestätisch war sein Aufenthaltsort in einem kleinen Zoo bei Lugano – aber lassen wir das jetzt, schliesslich hatte er immerhin ein Gehege mit grossem Auslauf.)

Dieser Löwe also. Wir spazierten durch das Gelände, ich im Rollstuhl mit einem Zuggefährt vorgespannt. Als wir uns dem Löwen annäherten, drehte der völlig durch. Er schien sich provoziert zu fühlen von diesem unbekannten rollenden Etwas. Er rannte auf mich zu und warf sich brüllend gegen die Scheibe, mit seiner ganzen imposanten Löwenkraft. (Zum Glück gab es da eine Scheibe zwischen uns, darf man sagen.)

Wir waren anfänglich völlig erschrocken, und unser Sohn suchte sofort das Weite. Anfänglich, sage ich. Denn leider war das Ganze auch sehr faszinierend. Wem geschieht es schon je einmal, dass ein Löwe auf ihn zustürzt, und es droht gleichzeitig dabei überhaupt keine Gefahr? Ich muss gestehen, ich bin ein-, zweimal extra noch mal hingefahren. Prompt war der Löwe wieder provoziert und das Schauspiel wiederholte sich. Gemein von mir, oder?

Aber mir hat es irgendwie gut getan. So im Sinne eines Nachteilsausgleichs. Ab und zu muss man sich auch mal was gönnen. Gerade wenn man nicht erst seit gestern eine schwere chronische Krankheit hat und von Erschwernissen und Hürden geplagt ist. Sowieso, ich habe einiges Recht darauf, ein bisschen gemein zu sein. Der ist nämlich nicht der Einzige hier, der ständig von allen angestarrt wird, dieser blöde Löwe.

Patricia Götti Zollinger

FORTE Special

Dieser Artikel erschien im Oktober 2022 im Magazin Forte 4/2022 mit Schwerpunktthema «Älter sein mit MS». Die ganze Ausgabe des FORTE gibt es hier zum Lesen. Sie können sie aber auch per Post nach Hause bestellen