FORTE Special: Aus dem Leben von Mireille Bourdier

Mireille Bourdier ist seit vielen Jahren ein aktives und geschätztes Mitglied der Schweiz. MS-Gesellschaft. Ihre aufgeweckte Art hat sie sich trotz ihrer Krankheit immer bewahrt und ihr Durchhaltevermögen und der Wille, nach vorne zu schauen, sind heute stärker denn je.

In dieser FORTE-Ausgabe steht für einmal nicht ein Text aus der Feder der Redaktion im Mittelpunkt, sondern die selbst niedergeschriebenen Gedanken einer Betroffenen. Aufgrund ihrer Erkrankung kann Mireille Bourdier nämlich kaum noch sprechen. Vor einigen Jahren entdeckte sie auf Anraten einer Bekannten das Schreiben für sich. Seither bringt sie jeden Morgen einige Zeilen zu Papier, dazu hat die 79-Jährige schon mehrere Bücher über ihren Lebensweg geschrieben. Und nun haben auch wir sie gebeten, schriftlich mit uns zu teilen, was ihr am Herzen liegt.

Mireille Bourdier schreibt…

2007, kurz bevor ich als Pflegerin in den Ruhestand trat, war ich in bester Verfassung. Nichts deutete darauf hin, dass eine neurologische Erkrankung mein Leben auf den Kopf stellen würde. Ich hatte mir im Kopf bereits zahlreiche Pläne für meine Pension ausgemalt – ganz oben auf meiner Liste stand das Reisen. Im Jahr 2008 begann ich, mich ehrenamtlich zu engagieren und ging darin auf, anderen zu helfen. Jeden Morgen lief ich eine Runde, um mich körperlich abzureagieren. Ich fühlte mich ungewohnt stark gestresst, dachte allerdings, dass dies auf den veränderten Rhythmus in meinem Ruhestand zurückzuführen war. Im Januar 2009 flehte mich mein Verstand schliesslich an: «Stopp! Du übernimmst dich.» Doch ich hörte nicht auf ihn und mein Körper rebellierte. Als ich eines Tages eine Treppe hinaufsteigen wollte, war die Kommunikation zwischen meinem Gehirn und meinem linken Fuss für den Bruchteil einer Sekunde unterbrochen. Da zu diesem Zeitpunkt die Grippe im Umlauf war und ich noch dazu ziemlich müde war, dachte ich mir nichts weiter dabei. Als ich nur wenig später zweimal stürzte, merkte ich doch, dass etwas nicht stimmte. Als mir der Neurologe sichtlich betrübt die Diagnose und die langfristigen Folgen dieser Erkrankung – mit Aussicht auf den Rollstuhl – offenbarte, stand ich unter Schock. Ich brauchte acht Tage, um die Informationen zu verdauen, bevor ich mit meinem Mann Jean-Claude darüber sprechen konnte. Ich leugnete die Diagnose und weigerte mich, die Zukunft zu akzeptieren, die sich vor mir abzeichnete. Und so meldete ich mich bei EXIT an, um einen Plan B zu haben. Im Nachhinein weiss ich, dass ich Glück hatte, schnell eine Diagnose erhalten zu haben. Viele Menschen leben jahrelang in Ungewissheit.

Entwicklung

Nach und nach setzte sich die Krankheit mit all ihren unangenehmen Begleiterscheinungen durch: Konzentrationsschwierigkeiten, Gleichgewichtsstörungen und ein nächtliches stechendes beziehungsweise brennendes Gefühl in den Beinen. Die schmerzhafte Spastik in meinen unteren Gliedmassen konnte ich durch die Einnahme von medizinischem Cannabis mildern. Durch all das wurde ich mit einer Realität konfrontiert, in der ich nicht leben wollte. Die Nordic-Walking-Stöcke, die mir noch die Illusion gaben, sportlich zu sein, tauschte ich gegen einen Rollator und schliesslich gegen einen Rollstuhl ein. Dieser hatte auch etwas Positives, da ich endlich wieder Menschen anschauen und ihre Blicke beobachten konnte. Gleichzeitig änderte sich dadurch die Wahrnehmung der Menschen mir gegenüber: Ich wurde wie ein zerbrechliches Kunstwerk behandelt. Bei einer Behinderung ist der Umgang mit den Blicken anderer Menschen ein neuer Lernprozess. Ich habe Mitleid, Mitgefühl und Angst in ihren Gesichtern wahrgenommen, aber auch Wohlwollen und den Wunsch, zu helfen. Damit sich die Menschen in meiner Nähe wohler fühlen, habe ich gelernt, mit einem Lächeln um Hilfe zu bitten und mich anschliessend mit einer entsprechenden Geste zu bedanken. Im Verlauf dieser Jahre habe ich alle Phasen der Trauer durchlebt. Ich fühlte mich wie gelähmt, rebellisch und oft wütend. Ich habe auf Feilschen und Verhandeln mit dem Schicksal gesetzt und mich geweigert, aufzugeben. Ich akzeptierte meine Situation nicht, sondern arrangierte mich mit ihr.

Ein neues gemeinsames Leben

Wenn eine Krankheit mit Behinderung in das Leben eines Paares tritt, müssen beide Seiten ihre Prioritäten neu ordnen, sich eine grosse Portion Geduld, Respekt, Liebe und Zuneigung entgegenbringen und die eigenen Räumlichkeiten strukturell umgestalten. So erging es auch uns. Mein Mann wurde vom Ehepartner zum pflegenden Angehörigen. Er lernte, einen Rollstuhl zu steuern, die Wäsche zu waschen, einzukaufen und einen Teil der Tätigkeiten zu erledigen, die ich früher übernommen hatte. Sein Leben veränderte sich dadurch massiv. Und meines auch. Ich fühlte ich mich immer nutzloser und sozial isoliert.

Das Leben geht weiter

Schliesslich wandte ich mich an die Regionalgruppe der Schweiz. MS-Gesellschaft in Yverdon, da ihre Freizeitaktivitäten auf meine Situation zugeschnitten waren, und wurde dort herzlich empfangen. In der Gruppe sprachen wir über unsere Gefühle und Sorgen, nahmen an Ausflügen teil und entdeckten Orte, die wir ohne Hilfe nicht hätten erkunden können. Unter der Leitung von erfahrenen Betreuerinnen und Betreuern sind wir mehrmals nach Spanien und Frankreich in die Ferien gefahren. Herzlichen Dank an die Schweiz. MS-Gesellschaft für die Unterstützung der Regionalgruppen! Die Nähe zu den Teilnehmenden öffnete mir die Augen und zwang mich, meine Prioritäten zu überdenken. So lernte ich beispielsweise junge Eltern kennen, die an MS erkrankt waren. Dadurch fing ich an, über die Auswirkungen auf ihr Leben im Vergleich zu meinem nachzudenken. «Ich hatte das Glück, zwei Kinder noch in guter körperlicher Verfassung grossgezogen zu haben. Mit meinen drei Enkelkindern habe ich unvergessliche Momente erlebt. Was für einen Grund habe ich, mich zu beschweren?» Diese Erkenntnis hat mir den Mut gegeben, dem Leben doch noch eine Chance zu geben.

Allein leben?

Das Leben kann sich von einem Moment auf den anderen komplett ändern. Genau wie damals, als mein Mann im September 2013 plötzlich an einem Aortenaneurysma starb. Am Abend vor dem Schlafengehen hatten wir uns noch einen Kuss gegeben, und nun musste ich den Pfad des Lebens alleine fortsetzen. Es brach mir das Herz, ohne ihn weiterleben zu müssen. Im darauffolgenden Jahr überschlugen sich die Ereignisse. Ich war so traumatisiert, dass ich meine Stimme verlor, und meine Gefühlsstörungen gerieten zeitweise ausser Kontrolle. Ohne meinen kämpferischen Geist wäre ich mit Sicherheit in einem Pflegeheim gelandet. Die Nachbarn haben Essen für mich gekocht und mir Gesellschaft geleistet: Wie in einem Heim wurde meine Küche zu einem Treffpunkt. Um meinen Arzt und mein Umfeld zu beruhigen, nahm ich die Unterstützung der Krankenpflege zu Hause an. Und so wurde ich selbst von der Pflegerin zur Gepflegten.

Gruppenaufenthalte mit der Schweiz. MS-Gesellschaft

Um weiterleben zu können, brauchte ich Beschäftigungen. Deshalb habe ich mich auf Empfehlung einer Freundin für den Gruppenaufenthalt der Schweiz. MS-Gesellschaft in der Romandie angemeldet, der 2015 in Les Diablerets stattfand. Während dieses «GAs» bemerkte eine Freiwillige meine Frustration über meine Sprechprobleme und schlug mir vor, ein Buch zu schreiben. Ich bin Monique noch heute dankbar, denn das war eine geniale Idee. Seitdem schreibe ich jeden Morgen. Es ist mittlerweile zu einer Sucht geworden. Die Gruppenaufenthalte haben sich als sehr bereichernd erwiesen und hatten eine therapeutische Wirkung auf mich. Sie schaffen Verbindungen und geben den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich auszutauschen, Probleme in verschiedene Perspektiven zu rücken und den Angehörigen eine Verschnaufpause zu gönnen. Vielen Dank an dieser Stelle an alle Freiwilligen für ihren Einsatz! Jeder Tag ist ein Geschenk.

Fazit

Das Leben hält stets neue Lektionen für uns bereit und wir selbst entscheiden, wie wir damit umgehen. Schliesslich hat man immer eine Wahl: Man kann dem Leben mit einem Lächeln oder mit Verbitterung begegnen. Wenn einen das Leben mal wieder auf die Probe stellt und einem alles zu viel wird, tut es manchmal einfach gut, zu weinen und all die negativen Emotionen rauszulassen. Aber dann geht das Leben weiter. Denn wenn man vor den Menschen in seinem Leben ständig nur jammert, steht man irgendwann alleine da. Seit einigen Jahren leidet auch meine Tochter* an einer neurologischen Krankheit, die zu Einschränkungen führt. Um meiner Wut und tiefen Trauer Ausdruck zu verleihen, habe ich einen Brief an das Universum geschrieben. Ich weiss nicht, ob es den Brief gelesen hat, aber allein das Schreiben hat mir geholfen. Nun muss ich leider los, denn meine Enkelkinder kochen für mich, auch wenn es eigentlich andersherum sein sollte. Danke, liebe Leserin, lieber Leser, dass Sie sich die Zeit genommen haben, diesen Text zu lesen.

In Freundschaft Mireille Bourdier

* Die Tochter von Mireille Bourdier ist während der Redaktion des FORTE plötzlich verstorben. Wir sprechen Mireille Bourdier und ihren Angehörigen unser aufrichtiges Beileid aus.

FORTE Special

Dieser Artikel erschien im Oktober 2022 im Magazin Forte 4/2022 mit Schwerpunktthema «Älter sein mit MS». Die ganze Ausgabe des FORTE gibt es hier zum Lesen. Sie können sie aber auch per Post nach Hause bestellen