Erfahrungen zur Stammzelltransplantation

Fachartikel

Am Universitätsspital Zürich können MS-Betroffene unter bestimmten Umständen mit Stammzellen aus ihrem Knochenmark behandelt werden. Die beiden Neurologen Dr. Ilijas Jelcic und Prof. Dr. Roland Martin berichteten am «MS State of the Art Symposium» über ihre bisherigen Erfahrungen mit dieser Art der Therapie.

Bereits seit 1995 ist es möglich, zur Behandlung einer trotz medikamentöser Therapie hoch aktiv verlaufenden oder rasch voranschreitenden MS, Stammzellen aus dem Knochenmark der Betroffenen einzusetzen (autologe Stammzelltransplantation, aHSCT). Seit Juli 2018 ist diese Methode in der Schweiz zugelassen und krankenkassenpflichtig.

Ziel: Stoppen der Krankheitsaktivität

Um aufzuzeigen, welche Wirksamkeit von einer aHSCT bei MS erwartet werden kann, erklärte Dr. Jelcic zu Beginn seines Vortrags das Konzept NEDA-3 (No Evidence of Disease Activity, kein Nachweis einer Krankheitsaktivität). Damit wird das Therapieansprechen anhand der drei Kriterien Schübe, Krankheitsaktivität im MRI und progrediente Verschlechterung der neurologischen Beeinträchtigung beurteilt. Um NEDA-3 zu erreichen, darf es unter einer Therapie weder zu Schüben, noch zu neuen entzündlichen Veränderungen im MRI, noch zu einer Verschlechterung der Behinderung kommen. Wie Dr. Jelcic erläuterte, erreichen zwei Jahre nach Beginn einer Behandlung mit den wirksamsten, konventionellen Verlaufstherapien bis zu 46% der MS-Betroffenen NEDA-3. Dies geht aus der Analyse mehrerer internationaler Studien der letzten 10 Jahre hervor, an denen Tausende von Personen teilgenommen haben. Für die aHSCT zeigen 7 kleinere Studien mit über 400 Patienten, dass zwei Jahre nach Transplantation in 62 bis 93% der Betroffenen NEDA-3 erreicht werden konnte. «Damit stellt die autologe Stammzelltransplantation eine sehr wirksame Behandlung dar», so Dr. Jelcic.

Option bei sehr aktiver Erkrankung

Da eine aHSCT eine komplexe und für die Behandelten belastende Therapie darstellt, wird sorgfältig evaluiert, wem diese Möglichkeit angeboten werden kann. So müssen die Betroffenen trotz Behandlung mit einer sehr wirksamen Therapie eine hochaktive und/oder rasch voranschreitende MS aufweisen. Zudem müssen sie dazu bereit sein, dass ihre Daten in einem Register, einem Verzeichnis aller in der Schweiz mit einer aHSCT behandelter Personen mit MS, erfasst werden. Dieses vom Bundesamt für Gesundheit geforderte Verzeichnis dient dazu, möglichst viele Informationen über den Verlauf der MS in den ersten fünf Jahren nach der aHSCT sammeln und analysieren zu können.

Bisher 38 Betroffene behandelt

Bis im Dezember 2021 konnten am Universitätsspital Zürich 38 MS-Betroffene mit einer aHSCT behandelt werden. Im Durchschnitt waren die transplantierten Personen 40 Jahre alt, litten seit fast 10 Jahren an MS und wiesen einen EDSS-Wert von 4,0 auf (EDSS: Skala zur Messung der Behinderung). Gut 46% der Betroffenen litten an einer schubförmigen MS, 29% an einer sekundär progredienten und 26% an einer primär progredienten MS.

Die durchschnittliche Nachbeobachtungsdauer nach der Transplantation beträgt aktuell etwa zwei Jahre. Innerhalb dieses Zeitraums kam es bei keiner der transplantierten Personen zu einem Schub und es zeigten sich auch keine neuen Veränderungen im MRI. Ein Jahr nach der Transplantation konnte bei 81% der Betroffenen NEDA-3 festgestellt werden. Der Anteil an Betroffenen mit NEDA-3 war dabei in der Gruppe mit schubförmiger MS gleich gross wie in der Gruppe mit einer primär bzw. sekundär progredienten MS (jeweils 81%). Der EDSS-Wert blieb bei einem überwiegenden Teil der MS-Betroffenen stabil (23%) oder verbesserte sich (57%). Bei 20% der Transplantierten kam es jedoch zu einer Verschlechterung des EDSS-Werts. «Wir hatten den Eindruck, dass der Nutzen der Transplantation in Bezug auf den EDSS-Wert bei Betroffenen mit schubförmig verlaufender MS grösser war als bei Personen mit primär oder sekundär progredienter MS, aber wir benötigen noch längere Nachbeobachtungszeiten, um dies zuverlässiger beurteilen zu können», ergänzte Dr. Jelcic.

Zu Nebenwirkungen kam es insbesondere in den ersten Tagen nach der Transplantation. Da das körpereigene Immunsystem vor der Transplantation ausgeschaltet werden muss, handelte es sich dabei vor allem um Infektionen wie Atemwegsinfekte und Schleimhautentzündungen wie Magen-Darm-Erkrankungen. Es waren auch zwei Suizide zu beklagen. «Das hat dazu geführt, dass wir die psychiatrisch-psychologische Betreuung der MS-Betroffenen vor und nach der Transplantation intensiviert haben, zumal der Eingriff auch psychisch belastend sein kann», berichtete Dr. Jelcic.

Das Immunsystem überlisten

Das Konzept der aHSCT besteht darin, dass sich das Immunsystem der Betroffenen, ausgehend von den transplantierten Stammzellen, neu aufbaut und sich somit nicht mehr an die frühere MS-Entzündungsaktivität «erinnert». Die bisher mit der aHSCT in Zürich gesammelten Erfahrungen bestätigten, dass dieses Konzept funktioniert. So konnte Prof. Martin aufzeigen, wie nach der Transplantation bestimmte, bei einer MS relevante Immunzellen, sogenannte T-Zellen, nach und nach durch neue Zellen ersetzt werden. Daneben lassen sich auch noch weitere positive Effekte der aHSCT beobachten. Etwa, dass das Hirnvolumen, das bei MS-Betroffenen tendenziell abnimmt, unter aHSCT auf das Niveau der Allgemeinbevölkerung zurückkehrte.

Die aHSCT ist eine hochintensive und nur für eine kleine Zielgruppe bestimmte Therapieform, die dann eingesetzt wird, wenn andere MS-Verlaufstherapien nicht wirksam sind. Auch wenn die aHSCT erst an einer kleinen Patientenzahl durchgeführt wurde, so hofft Prof. Martin, dass die Voraussetzungen geschaffen werden, diese Form der Behandlung künftig an weiteren Schweizer Spitälern anzubieten.

Fachreferat von Dr. Ilijas Jeclic und Prof. Dr. Roland Martin, Zürich (auf Englisch)

«MS State of the Art Symposium»

Das «MS State of the Art Symposium» ist der bedeutendste Fachkongress zu Multipler Sklerose in der Schweiz und wird von der Schweiz. MS-Gesellschaft und ihrem Medizinisch-wissenschaftlichen Beirat organisiert. Dieses Jahr fand das Symposium am 29. Januar 2022 in virtueller Form statt.

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