Die «stillen» Symptome der MS

Fachartikel

Neben den gut beschreibbaren und klinisch erfassbaren MS-Symptomen gibt es eine Vielzahl von Beschwerden, die im Rahmen einer MS auftreten können und welche für den Arzt nur bedingt fassbar oder objektivierbar sind. Für nicht-betroffene Laien sind sie erst recht kaum sichtbar und nur schwer einzuordnen. Die häufigsten sogenannten «stillen» oder «unsichtbaren» Symptome im Überblick.

Die MS betrifft vor allem Menschen im jungen und mittleren Erwachsenenalter. Obgleich bezüglich ihrer Krankheitsentstehung bislang keine definitiven Aussagen möglich sind, kann vermutet werden, dass es sich um ein komplexes Zusammenwirken verschiedener anlage- sowie umweltbedingter Faktoren handelt.

Im Immunsystem, welches normalerweise für die Überwachung und allfällige Eliminierung von Krankheitserregern verantwortlich ist, kommt es aufgrund nicht vollständig geklärter Ursachen zu einer Fehlreaktion, bei welcher das eigene Gewebe als «fremd» erkannt und durch die eigene Immunabwehr angegriffen wird (Autoimmunreaktion). Im Rahmen dieser Autoimmunreaktion kommt es zu einer Schädigung der Schutzschichten, welche die Nervenfasern umhüllen.

Die Symptome können sehr unterschiedlich sein, je nachdem welche Nervenfasern betroffen sind (z.B. solche für die Bewegungs- oder Empfindungssteuerung oder Schmerzfortleitung usw.). Während Lähmungserscheinungen, Sehstörungen und Bewegungseinschränkungen recht gut beschreibbar und neurologisch erfassbar sind, können einige andere Symptome, wie Schmerzen, Blasen- und Darmstörungen, abnorme Ermüdbarkeit (Fatigue), Hirnleistungsstörungen oder aber auch Stimmungsänderungen bis hin zur Depression auftreten.

Im Gegensatz zu den gut beschreibbaren und häufig nach aussen hin auch beobachtbaren Funktionseinschränkungen handelt es sich bei den anderen Symptomen nicht immer um Defizite, die von aussen klar erkennbar sind. Diese Störungen sind dennoch – und sogar gerade weil sie nicht beobachtbar sind – für Betroffene und Angehörige besonders belastend und schwierig zu bewältigen.

Fatigue – man sieht mir nicht an, wie müde ich bin

Fatigue gilt als eines der häufigsten Symptome der MS, wobei etwa 70 bis 80 % der MS-Betroffenen darunter leiden. Während einige Betroffene eine permanente Müdigkeit schildern (chronische Fatigue), die sich selbst bei einfachsten Tätigkeiten bemerkbar macht, berichten andere von einer spontanen, plötzlich einschiessenden Müdigkeit, die ohne körperliche Aktivität oder nur wenige Minuten nach Beginn einer Aktivität auftritt (akute Fatigue). Die Müdigkeit kann sowohl rein körperliche Funktionen betreffen (z.B. Müdigkeit in den Beinen nach wenigen Schritten) oder sich auf geistige Tätigkeiten beziehen (Nachlassen der Aufmerksamkeit und Konzentration nach kurzer Zeit) und sich bei Fieber, Hitze, nach einem warmen Bad oder im Rahmen anderer Einflüsse, welche die Körpertemperatur erhöhen, verstärken.

Grundsätzlich ist eine Fatigue etwas Subjektives, d.h., die Betroffenen spüren zwar die Müdigkeit oder erhöhte Ermüdbarkeit, eine andere Person kann das aber nicht notwendigerweise erkennen. Da es weder klare körperliche Zeichen noch Untersuchungsmethoden gibt, mit denen sich eine Fatigue eindeutig diagnostizieren lässt, wird sie zu den «stillen» oder «unsichtbaren» Symptomen gezählt. Oft stellt sich bei den Betroffenen das Gefühl des Nicht-verstanden-Werdens ein; besonders wenn die beklagte Fatigue von der Umwelt als «Nicht- Wollen» oder als übermässige Trägheit interpretiert wird. Dies kann zu Missverständnissen führen, bestehende Probleme verstärken oder zusätzliche psychische Probleme verursachen.

Gerade weil mit der Diagnose MS auch eine Veränderung des Selbstbildes einhergeht, können derartige Erfahrungen, wenn sie im persönlichen Umfeld stattfinden, zu Unsicherheiten, zum Gefühl der Inakzeptanz und schliesslich zum sozialen Rückzug führen. Und damit können sie wiederum einen deutlichen Einfluss auf die Stimmung haben.

Depressionen – Traurigkeit kann still und wortlos sein

Nicht jedes Stimmungstief kann man mit einer Depression gleichsetzen. Stimmungsänderungen im Sinne einer gedrückten Stimmungslage sind bei MS-Betroffenen häufig, da die Diagnose eher jüngere Menschen völlig unvorbereitet in einer Lebensphase trifft, in der die berufliche Etablierung, die Partnerbindung oder auch die Familiengründung im Vordergrund stehen. Insgesamt jedoch lässt sich festhalten, dass die Lebenszeitprävalenz einer Depression (d.h. die Wahrscheinlichkeit, jemals im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken) bei MS-Betroffenen im Gegensatz zu gesunden Menschen deutlich erhöht ist. Sie beträgt rund 50%, das heisst, dass nahezu jeder zweite MS-Betroffene im Laufe seines Lebens eine – häufig behandlungsbedürftige – depressive Phase durchlebt.

Zur Zeit der Diagnosestellung können insbesondere die genannten Gründe (Unvermitteltheit der Diagnosestellung, «Diagnose-Schock», Verlust des Selbstbildes usw.) die Ursache für eine Depression sein – wobei hier eher der Ausdruck einer depressiven Reaktion auf eine leidvolle Erfahrung angebracht ist.

Im Laufe der Jahre können aber auch die MS-typischen Hirnveränderungen selbst zu depressiven Störungen führen. Dies hängt damit zusammen, dass die Hirnveränderungen an solchen Nervenbahnen auftreten können, über die auch die für die Stimmungsregulation notwendigen Hirn-Botenstoffe an ihre Zielorte gelangen. Die hierdurch verursachte Fehlsteuerung kann auch ein bestehendes Stimmungstief zusätzlich negativ beeinflussen und zu einer Depression führen.

Eine Depression ist gekennzeichnet durch genau definierte Symptome, die je nach Schweregrad in unterschiedlicher Ausprägung für eine längere Zeitdauer so deutlich in Erscheinung treten, dass die gesamte Erlebnis- und Genussfähigkeit, die Leistungsfähigkeit, das Denken und die zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit eines Menschen deutlich beeinträchtigt werden. Lustlosigkeit, Müdigkeit, Appetitverlust, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, sexuelle Interesselosigkeit, Gewichtsabnahme oder -zunahme sind typische Zeichen einer Depression.

Es gibt unterschiedliche Formen und Schweregrade der Depression. Dies kann so weit reichen, dass sich die Betroffenen äusserst niedergeschlagen fühlen und sowohl die aktuelle Situation als auch die Zukunftsperspektiven als negativ empfinden. Eine Erschöpfung und die damit verbundene Energielosigkeit können sowohl Zeichen einer Fatigue als auch Symptom einer Depression sein. Da Betroffene diesen Zustand ohne professionelle Hilfe nicht überwinden können, ist es wichtig, diese Zeichen rechtzeitig zu erkennen, um eine fachliche Untersuchung und Beurteilung vornehmen zu lassen sowie nötigenfalls eine Behandlung einzuleiten. Für die Angehörigen ist es wichtig zu wissen, dass eine Depression nicht durch Trösten, gutgemeintes Zureden, Überzeugen oder gar Unter-Druck-Setzen gebessert werden kann. Häufig ist eine Psychotherapie, zumeist in Verbindung mit einer medikamentösen Behandlung, sinnvoll.

Kognitive Störungen – meine Mühe beim Denken sieht man nicht

Nahezu die Hälfte der MS-Betroffenen berichtet über Probleme mit der Konzentration, dem Gedächtnis sowie über Schwierigkeiten beim gleichzeitigen Bearbeiten mehrerer Aufgaben oder der raschen Informationsverarbeitung. Dies sind Störungen der kognitiven Leistungen. Sie können im Einzelfall sogar zu den ersten Zeichen der Erkrankung gehören und zu einem Zeitpunkt in Erscheinung treten, wo ansonsten keine einschränkenden körperlichen Symptome beklagt werden. Jedoch können diese kognitiven Störungen im Berufs- und Familienalltag zu deutlichen Einschränkungen führen und die Lebensqualität beeinträchtigen. Gerade das Nachlassen der geistigen Leistungsfähigkeit rüttelt am Selbstbild und wird von vielen Betroffenen als bedrohlich empfunden. Die Betroffenen mögen in einer bestimmten Situation merken, dass sie bestimmte Tätigkeiten nicht mehr mit der gewohnten Leichtigkeit ausführen können, ihnen bestimmte Namen oder Begriffe nicht auf Anhieb einfallen oder dass sie einer Unterhaltung nur mit grosser Mühe und Konzentration folgen können. Häufig sind die Vermeidung von sozialen Kontakten oder gar der gänzliche Rückzug die Folge dieser Verunsicherung.

Paroxysmale («anfallartige») Symptome – was nur kurz kommt und geht, wird nicht beachtet

Unter paroxysmalen Symptomen versteht man Störungen, die plötzlich und unvermittelt auftreten und nach kurzer Zeit wieder vollständig verschwinden können, beispielsweise Gefühlsstörungen oder Sehstörungen. Oftmals spielen eine plötzliche Temperaturveränderung oder eine abrupte Bewegung eine Rolle als Auslöser. Die Tatsache, dass diese Störungen völlig unvermittelt auftreten und genauso schnell wieder verschwinden können, führt einerseits zur Beunruhigung und Verunsicherung bei den Betroffenen. Andererseits können gerade diese anfallartigen Symptome zu Unsicherheiten bei Angehörigen und manchmal zu Zweifeln am beklagten Gesundheitszustand der Betroffenen führen. Dies wiederum kann die Betroffenen irritieren; man fühlt sich nicht ernst genommen und zieht es dann bei erneuten Gelegenheiten vor zu schweigen, anstatt über die durch die Symptome verursachten Sorgen und Nöte zu sprechen. Derartige Verhaltensmuster können zu einer Kette von Missverständnissen führen, an deren Ende der soziale Rückzug und die Isolation stehen. Dies kann wiederum als Wegbereiter für eine Depression wirken.

Blasen- und Darmprobleme – darüber wird nicht geredet

Viele Betroffene klagen über Störungen der Blasen- und/oder Darmfunktion. Obgleich auch diese Symptome nicht notwendigerweise «von aussen» sichtbar sind, kann z.B. ein ungewollter Urinabgang (Harninkontinenz) zu deutlichen Einschränkungen im Aktionsradius eines Betroffenen führen. Tatsächlich entscheiden sich dann viele Betroffene mit diesen Problemen eher zu einer Einschränkung ihrer Aktivitäten, um nicht ständig auf der Suche nach der nächsten Toilette zu sein und dadurch sich und andere unter Druck zu setzen. Unglücklicherweise können sich die Blasen- und Darmfunktionen gerade durch eine zusätzliche Inaktivität (Bewegungsarmut) weiter verschlimmern, so dass auch hier wieder eine «Negativspirale» in Gang gesetzt wird.

Schmerzen – man könnte laut schreien und ist ganz still

Betroffene wissen, dass MS keine schmerzlose Krankheit ist. Schmerzen können sowohl als direkte Folge der MS-Aktivität infolge der Gehirnveränderungen auftreten, als auch aufgrund von anderen MS-Symptomen (z.B. Spastiken durch Haltungsfehler oder Verkrampfungen). Hierbei können die Schmerzen verschiedene Intensitäten (d.h., wie stark der Schmerz ist) und Qualitäten (d.h., wie sich der Schmerz anfühlt) haben. Viele Betroffene berichten über gelegentlich auftretende Gesichtsschmerzen (Trigeminusneuralgie).

Ähnlich wie mit den anderen, oben beschriebenen Symptomen sind diese Schmerzen LEBEN MIT MS für Aussenstehende einerseits nicht wahrnehmbar, andererseits führen sie ebenfalls zu deutlichen Einschränkungen der Aktivitäten und somit der Lebensqualität der Betroffenen. Grundsätzlich führen gerade chronische Schmerzen dazu, dass sich Betroffene primär auf sich und den Schmerz konzentrieren. Das Symptom nimmt somit einen breiten Raum in ihrer Gedankenwelt ein, und sie werden für andere, angenehme Dinge und zwischenmenschliche Aktivitäten weniger empfänglich. Auch die Genussfähigkeit ist davon betroffen. Man ist weniger gesellig, zieht sich öfters zurück und benötigt mehr Ruhe, meidet eher Kontakte und empfindet sich als eine Last, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Zudem können schmerzlindernde Medikamente eine Müdigkeit zusätzlich verstärken, so dass auch hier eine Negativ spirale zu erwarten ist.

Professionelle Unterstützung

Die unsichtbaren Symptome einer MS betreffen sowohl bestimmte körperliche Beschwerden als auch seelische Probleme. Oftmals können sich diese körperlichen und seelischen Symptome gegenseitig verstärken, so dass eine Negativspirale entsteht, die in ihrer Gesamtheit zu persönlichen Krisen und zwischenmenschlichen Konflikten führen kann. Gerade deshalb ist es wichtig, dass diese Themen gegenüber den nahestehenden Personen angesprochen werden. Allerdings kann gerade bei seelischen Problemen ein gut gemeinter Zuspruch allein nicht helfen. Hier ist – möglichst gemeinsam mit dem Arzt – zu überlegen, inwieweit eine individuelle Beratung oder im Einzelfall auch eine Psychotherapie helfen kann.

Text: Prof. Dr. Pasquale Calabrese, Berater für Psychotherapie, Neuropsychologie und Verhaltensneurologe bei der Schweiz. MS-Gesellschaft