Darm und Ernährung an der Entstehung der MS beteiligt

Fachartikel

Welche Rolle spielt der Darm bei der Entstehung von MS? Der Neurologe Aiden Haghikia beschreibt in diesem Artikel, wie Darmbakterien eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Autoimmunkrankheiten spielen und wie derzeit an der Bedeutung der Ernährung bei MS geforscht wird.

Die Multiple Sklerose (MS) ist primär eine autoimmune Erkrankung des zentralen Nervensystems, d.h. das eigene Immunsystem, das für die Infektabwehr angelegt ist, greift Bestandteile von Nervenscheiden, des sog. Myelins, aber auch Nervenzellen und ihre Ausläufer selbst im Rückenmark und Gehirn an. Diese Immunattacken führen entweder zu Schüben, die Patienten beeinträchtigen und behandelnde Neurologen untersuchen können und/oder zu stummen Entzündungszeichen, die mittels MRT sichtbar werden, die sog. Läsionen oder Herde. Die rasant wachsenden Erkenntnisse aus der klinischen und grundlagenwissenschaftlichen Erforschung der autoimmunen Entzündung bei der MS hat in den letzten Jahren zur rascheren Diagnostik und besseren Therapierbarkeit der MS geführt. Obwohl aus der Vielzahl von modernen Studien einige Therapeutika enttäuscht haben und andere ungeahnt schwerwiegende Nebenwirkungen hatten, haben sie alle erheblich zum Verständnis der Erkrankung und besseren Therapie beigetragen. So haben wir heute im Vergleich zu vor ca. 20 Jahren inzwischen 12 verschiedene Präparate, entsprechend 9 verschiedene Substanzklassen zur Behandlung von MS-Patienten zur Verfügung. Wenn damit auch noch nicht sämtliche Verlaufsformen, v.a. die späten sekundär und primär chronisch progredienten Verläufe, ausreichend therapiert werden können, so können wir aus der Vielzahl der Medikamenten eine Therapie auswählen, die dem Bedarf der Patienten gut angepasst werden kann.

Dabei können wir nicht nur die Krankheitsaktivität, sondern auch Verträglichkeit und Lebensumstände der Patienten, wie z.B. Kinderwunsch und die bevorzugte Applikationsform u.a. stärker in die Therapieentscheidung mit einfliessen lassen. Anders als die Immun-Prozesse während der Erkrankung, ist unser Verständnis über die Ursachen oder Ätiologie der MS noch immer sehr limitiert. Trotz neuer Erkenntnisse im Bereich der Genetik und Epigenetik der MS ist im Besonderen die Rolle der Umweltfaktoren als Auslöser und deren Einfluss auf den Verlauf der Krankheit noch weitestgehend unbekannt – diese machen 2/3 des MS-Risikos aus. Vorhandene Erkenntnisse hierzu, u.a. Virus-Infektionen in der Kindheit, Vitamin D-Mangel und Entfernung des Geburtsortes vom Äquator stammen zumeist aus ersten epidemiologischen Studien, die teilweise viele Jahrzehnte zurückliegen. Manche dieser Studienergebnisse konnten durch modernere nicht bestätigt werden, andere werden derzeit noch untersucht. Fest steht, die weitere Erforschung der Rolle von Umwelt- Risikofaktoren bei der Entstehung der MS ist höchst relevant, da die Umweltfaktoren mit ca. 60-70% – die Berechnung des genetischen Gesamtrisikos liegt bei etwa 30% - der Ätiologie erklären, d.h. einen weitaus grösseren Einfluss nehmen. Zudem erlaubt die Kenntnis solcher Risikofaktoren aus der Umwelt die Einflussnahme auf die Exposition im Sinne von Prävention und ggf. eine therapeutische Umsetzung.

So haben gross angelegte internationale Kohortenstudien inzwischen auch «neue» Risikofaktoren identifizieren können, wie z.B. den Einfluss des Zigarettenrauchs, von Übergewicht und übermässigen Kochsalzkonsum als aktivierende Faktoren bei der Entstehung und Wachstum von autoimmunen Entzündungszellen im Immunsystem. Ein anderes Feld, das stimuliert durch Professor Wekerle und Mitarbeiter vom Max-Planck- Institut einen rasanten Einzug in die Forschung der MS-Ätiologie hält, ist die Rolle des Darms bei der Entstehung der MS. Dabei ist der Darm aus vielerlei Hinsicht ein sehr wichtiges Organ sowohl bei Immungesunden, als auch bei Menschen mit Autoimmunkrankheiten, wie der MS: Der Darm hat die grösste Oberfläche, die mit der Aussenwelt in Kontakt steht und damit ein raffiniertes Immunsystem, und hier kommen sowohl die Nahrung, als auch Bakterien und Stoffwechselprodukte zusammen.

Der Darm als möglicher Entstehungsort für Autoimmun-Krankheiten

Der menschliche Darm nahm über Jahrhunderte eine zentrale Rolle in der Medizin und bei Heilberufen ein. Auch jeder ansonsten gesunde Mensch, der die Erfahrung mit Diarrhoen oder chronischer Obstipation gemacht hat, weiss, wie der gesamte Organismus in Mitleidenschaft gezogen wird. Daher rühren heute noch Darmtherapien, wie spezielle Einläufe und Reinigungskuren aus Fernost und indigenen Völkern. In der modernen Schulmedizin ist der Darm allerdings, Magen-Darm-Erkrankungen ausgenommen, im letzten Jahrhundert zunehmend in Vergessenheit geraten. Und nicht zuletzt aufgrund neuer gentechnologischer Methoden hat der Darm und insbesondere dessen Inhalt, die Darm-Bakterien, wieder beträchtliche Beachtung in der modernen Medizin und Grundlagenwissenschaften gefunden: Während über lange Zeit nur verhältnismässig wenige bakterielle Spezies, vor allem krankheitserregende Bakterien, mittels Anzucht mit speziellen Kulturtechniken nachgewiesen werden konnten, haben wir heute die Möglichkeit durch Genanalyse, abertausende verschiedene Bakterien durch ihren genetischen Fingerabdruck, gewissermassen deren Visitenkarte, zu erkennen.

Dass das Schicksal des menschlichen Organismus mit dem seiner bakteriellen Besiedlung eng zusammen hängt, lässt sich anhand eines lange bekannten und fundamentalen Beispiels verdeutlichen: Sog. Mitochondrien, die gewissermassen als Kraftwerke fast jeder menschlichen Zelle dienen, sind Überbleibsel von eigenständigen Bakterien-ähnlichen Organismen, die im Zuge der Evolution mit menschlichen Zellen fusioniert sind. Es stellt sich nun die Frage, was hat der Darm und seine bakterielle Flora mit der Autoimmun-Erkrankung eines weit weg gelegenen Organs, wie dem zentralen Nervensystem zu tun? Vor nicht allzu langer Zeit konnte gezeigt werden, dass durch die Entfernung «natürlicher» Bakterien aus dem Darm eines experimentellen Modells der MS die Erkrankung völlig unterdrückt werden konnte. Damit konnte gezeigt werden, dass die Darmbakterien nicht nur für die gesunde Immunabwehr, sondern auch für die Entstehung einer Autoimmunerkrankung eine zentrale Rolle spielen.

Nun kann diese wichtige Erkenntnis nicht direkt für Therapiezwecke genutzt werden, da das Überleben des Menschen ohne eine bakterielle Darmflora nicht möglich wäre. Hieraus haben sich allerdings zunehmend unterschiedliche Forschungszweige gebildet, die aktuell untersuchen, welche Bakterien für eine «gesunde» Flora zuständig und welche möglicherweise mit Erkrankungen wie der MS assoziiert sind. Es handelt sich noch um eine junge Forschungsdisziplin, die bereits erste Erkenntnisse über mögliche krankheitsassoziierte Bakterien gewonnen hat. Allerdings sind wir derzeit noch weit davon entfernt, die komplexen Interaktionen innerhalb der Gesamtheit aller Darmbakterien oder des sog. Darm-Mikrobioms zu verstehen. Bei einer aktuellen Schätzung, die von mehr als 10-mal mehr Bakterien als sämtliche menschliche Zellen zusammen genommen ausgeht, ist es nur verständlich, dass noch viele Fragen sowohl im Zusammenhang mit dem gesunden, als auch autoimmun erkrankten Organismus offen bleiben. Fest steht, dass die weit verbreitete sog. westliche Diät, die bevorzugt aus einfachen Kohlenhydraten, Zucker und tierischem Fett besteht, zu einer grundlegenden Veränderung des Darm-Mikrobioms und zwar einer Reduktion der Bakterien-Vielfalt führt.

Die Rolle der Ernährung bei der MS

Kürzlich wurden die Mechanismen aufgeklärt, wie die erhöhte Kochsalz-Zufuhr zur Entstehung und Vermehrung von autoimmunen Entzündungszellen im Kontext der MS beiträgt. Welche anderen Bestandteile aus der aufgenommenen Nahrungsvielfalt können die MS positiv oder negativ beeinflussen? Eine Frage, die sich MS-Patienten selbst und uns behandelnde Neurologen häufig stellen. Erste Studien, die dieser Frage nachgegangen sind, reichen zurück bis in die frühen Nachkriegsjahre. Aus der Beobachtung, dass an küstennahen Regionen Norwegens weniger Fälle von MS auftreten als im Inneren des Landes, ist die Theorie erwachsen, dass Nahrung reich an tierischen Fetten (Innland) im Gegensatz zu fisch- und gemüsereicher Nahrung die Entstehung der MS begünstigen könnte. Die nach dem Autor dieser Studie benannte sog. Swank-Diät hat demzufolge als primäres Ziel die Vermeidung tierischer Fette und erlebt heute eine Neuauflage. Andere Studien, die einen möglichen positiven Effekt von Omega-3-Fettsäuren (langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren) untersucht haben, konnten wiederholt keinen therapeutischen Effekt bei der MS nachweisen. Wir sind im Rahmen eigener, industriefreier Forschungsvorhaben zusammen mit Wissenschaftlern der Universität Erlangen der Frage nachgegangen, welche Eigenschaften von Fettsäuren möglicherweise das Immunsystem beeinflussen könnten.

Hierzu untersuchten wir sowohl den direkten Effekt von Fettsäuren unterschiedlicher Längen (kurz-, mittel- und langkettige Fettsäuren) auf Immunzellen in der Kulturschale, als auch die Wirkung der oralen Aufnahme und damit die Darmpassage der Fettsäuren auf den Krankheitsverlauf des experimentellen Modells der MS, der sog. experimentell autoimmune Enzephalomyelitis (EAE). Interessanterweise führen gesättigte Fettsäuren mit wachsender Länge, vor allem für die mittel- bzw. langkettigen Fettsäuren Laurinsäure und Palmitinsäuren zur vermehrten Entstehung und Vermehrung von pro-entzündlichen Lymphozyten in der Darmwand und damit zu einem schwereren Krankheitsverlauf der EAE. Im Gegensatz dazu führen Fettsäuren mit absteigender Länge, vor allem belegt für die Propionsäure zu einem Anstieg von regulatorischen Lymphozyten («Immunpolizei»), die bei oraler Zufuhr einen milderen Verlauf der EAE zur Folge haben. Aktuell überprüfen wir in einer Folgestudie an der Ruhr-Universität im St. Josef-Hospital zunächst bei gesunden Kontrollen und anschliessend bei MS-Patienten, ob sich diese Ergebnisse auch bei Anwendung des Salzes von Propionsäure, mit dem Natrium-Propionat im Menschen bestätigen lassen.

Inzwischen haben wir über 80 MS-Patienten hierunter untersucht und werden in Kürze die Ergebnisse der Studie veröffentlichen. Kochsalz und Fettsäuren als essenzielle Bestandteile der täglichen Nahrung können über den Darm einen erheblichen Einfluss auf das Immunsystem haben und möglicherweise im Kombination mit zugelassenen Immuntherapien adjuvant-therapeutische Anwendung finden. Diese Beobachtung lässt nur erahnen, welche unvorhergesehenen Möglichkeiten sich durch Nahrungsumstellung und Beeinflussung des Darms ergeben könnten und rechtfertigen allemal die weiterführende Erforschung dieses Gebiets im Kontext der MS. Wir halten es für sinnvoll, möglichst einfache Nahrungsergänzung und -modulation zu untersuchen, um die Darmflora bei MS «positiv» zu modulieren. Extremvorstellungen – wie «Stuhltransfer von gesunden Familienmitgliedern auf MS-Patienten» und damit Veränderungen des Mikrobioms, wären zwar in der modernen Medizin möglich, aber sollten bei Autoimmunerkrankungen nicht unser Ziel sein. Aus unserer Sicht können solche einfachen Nahrungsmethoden synergistisch-ergänzend zu den etablierten Immuntherapien stehen, und sie keinesfalls ersetzen.

Autor: Aiden Haghikia Neurologische Klinik der Ruhr-Universität Bochum
(mit freundlicher Genehmigung des DMSG-Landesverbands NRW)


Literatur

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