Dass das Schicksal des menschlichen Organismus mit dem seiner bakteriellen Besiedlung eng zusammen hängt, lässt sich anhand eines lange bekannten und fundamentalen Beispiels verdeutlichen: Sog. Mitochondrien, die gewissermassen als Kraftwerke fast jeder menschlichen Zelle dienen, sind Überbleibsel von eigenständigen Bakterien-ähnlichen Organismen, die im Zuge der Evolution mit menschlichen Zellen fusioniert sind. Es stellt sich nun die Frage, was hat der Darm und seine bakterielle Flora mit der Autoimmun-Erkrankung eines weit weg gelegenen Organs, wie dem zentralen Nervensystem zu tun? Vor nicht allzu langer Zeit konnte gezeigt werden, dass durch die Entfernung «natürlicher» Bakterien aus dem Darm eines experimentellen Modells der MS die Erkrankung völlig unterdrückt werden konnte. Damit konnte gezeigt werden, dass die Darmbakterien nicht nur für die gesunde Immunabwehr, sondern auch für die Entstehung einer Autoimmunerkrankung eine zentrale Rolle spielen.
Nun kann diese wichtige Erkenntnis nicht direkt für Therapiezwecke genutzt werden, da das Überleben des Menschen ohne eine bakterielle Darmflora nicht möglich wäre. Hieraus haben sich allerdings zunehmend unterschiedliche Forschungszweige gebildet, die aktuell untersuchen, welche Bakterien für eine «gesunde» Flora zuständig und welche möglicherweise mit Erkrankungen wie der MS assoziiert sind. Es handelt sich noch um eine junge Forschungsdisziplin, die bereits erste Erkenntnisse über mögliche krankheitsassoziierte Bakterien gewonnen hat. Allerdings sind wir derzeit noch weit davon entfernt, die komplexen Interaktionen innerhalb der Gesamtheit aller Darmbakterien oder des sog. Darm-Mikrobioms zu verstehen. Bei einer aktuellen Schätzung, die von mehr als 10-mal mehr Bakterien als sämtliche menschliche Zellen zusammen genommen ausgeht, ist es nur verständlich, dass noch viele Fragen sowohl im Zusammenhang mit dem gesunden, als auch autoimmun erkrankten Organismus offen bleiben. Fest steht, dass die weit verbreitete sog. westliche Diät, die bevorzugt aus einfachen Kohlenhydraten, Zucker und tierischem Fett besteht, zu einer grundlegenden Veränderung des Darm-Mikrobioms und zwar einer Reduktion der Bakterien-Vielfalt führt.
Die Rolle der Ernährung bei der MS
Kürzlich wurden die Mechanismen aufgeklärt, wie die erhöhte Kochsalz-Zufuhr zur Entstehung und Vermehrung von autoimmunen Entzündungszellen im Kontext der MS beiträgt. Welche anderen Bestandteile aus der aufgenommenen Nahrungsvielfalt können die MS positiv oder negativ beeinflussen? Eine Frage, die sich MS-Patienten selbst und uns behandelnde Neurologen häufig stellen. Erste Studien, die dieser Frage nachgegangen sind, reichen zurück bis in die frühen Nachkriegsjahre. Aus der Beobachtung, dass an küstennahen Regionen Norwegens weniger Fälle von MS auftreten als im Inneren des Landes, ist die Theorie erwachsen, dass Nahrung reich an tierischen Fetten (Innland) im Gegensatz zu fisch- und gemüsereicher Nahrung die Entstehung der MS begünstigen könnte. Die nach dem Autor dieser Studie benannte sog. Swank-Diät hat demzufolge als primäres Ziel die Vermeidung tierischer Fette und erlebt heute eine Neuauflage. Andere Studien, die einen möglichen positiven Effekt von Omega-3-Fettsäuren (langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren) untersucht haben, konnten wiederholt keinen therapeutischen Effekt bei der MS nachweisen. Wir sind im Rahmen eigener, industriefreier Forschungsvorhaben zusammen mit Wissenschaftlern der Universität Erlangen der Frage nachgegangen, welche Eigenschaften von Fettsäuren möglicherweise das Immunsystem beeinflussen könnten.
Hierzu untersuchten wir sowohl den direkten Effekt von Fettsäuren unterschiedlicher Längen (kurz-, mittel- und langkettige Fettsäuren) auf Immunzellen in der Kulturschale, als auch die Wirkung der oralen Aufnahme und damit die Darmpassage der Fettsäuren auf den Krankheitsverlauf des experimentellen Modells der MS, der sog. experimentell autoimmune Enzephalomyelitis (EAE). Interessanterweise führen gesättigte Fettsäuren mit wachsender Länge, vor allem für die mittel- bzw. langkettigen Fettsäuren Laurinsäure und Palmitinsäuren zur vermehrten Entstehung und Vermehrung von pro-entzündlichen Lymphozyten in der Darmwand und damit zu einem schwereren Krankheitsverlauf der EAE. Im Gegensatz dazu führen Fettsäuren mit absteigender Länge, vor allem belegt für die Propionsäure zu einem Anstieg von regulatorischen Lymphozyten («Immunpolizei»), die bei oraler Zufuhr einen milderen Verlauf der EAE zur Folge haben. Aktuell überprüfen wir in einer Folgestudie an der Ruhr-Universität im St. Josef-Hospital zunächst bei gesunden Kontrollen und anschliessend bei MS-Patienten, ob sich diese Ergebnisse auch bei Anwendung des Salzes von Propionsäure, mit dem Natrium-Propionat im Menschen bestätigen lassen.
Inzwischen haben wir über 80 MS-Patienten hierunter untersucht und werden in Kürze die Ergebnisse der Studie veröffentlichen. Kochsalz und Fettsäuren als essenzielle Bestandteile der täglichen Nahrung können über den Darm einen erheblichen Einfluss auf das Immunsystem haben und möglicherweise im Kombination mit zugelassenen Immuntherapien adjuvant-therapeutische Anwendung finden. Diese Beobachtung lässt nur erahnen, welche unvorhergesehenen Möglichkeiten sich durch Nahrungsumstellung und Beeinflussung des Darms ergeben könnten und rechtfertigen allemal die weiterführende Erforschung dieses Gebiets im Kontext der MS. Wir halten es für sinnvoll, möglichst einfache Nahrungsergänzung und -modulation zu untersuchen, um die Darmflora bei MS «positiv» zu modulieren. Extremvorstellungen – wie «Stuhltransfer von gesunden Familienmitgliedern auf MS-Patienten» und damit Veränderungen des Mikrobioms, wären zwar in der modernen Medizin möglich, aber sollten bei Autoimmunerkrankungen nicht unser Ziel sein. Aus unserer Sicht können solche einfachen Nahrungsmethoden synergistisch-ergänzend zu den etablierten Immuntherapien stehen, und sie keinesfalls ersetzen.
Autor: Aiden Haghikia Neurologische Klinik der Ruhr-Universität Bochum
(mit freundlicher Genehmigung des DMSG-Landesverbands NRW)
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