Hey, ich bin Claudia, 51-jährig und Mutter von 2 Kindern im Alter von 19 und 21 Jahren. Mit meinem zweiten Ehemann lebe ich zurzeit im Kanton Solothurn. Ich arbeite in einem lebhaften Betrieb und erledige die Büroarbeiten für den Kundendienst.
Was bedeutet MS für dich?
Ein Klammeraffe, welcher mich nie wieder loslässt. Jederzeit kann dieser nach Lust und Laune über meinen Körper und meine Beweglichkeit verfügen.
Wie lange bestanden bei dir schon die Symptome vor der Diagnose?
Ungefähr ein Jahr, bis zur Vordiagnose.
Wie und in welchem Alter wurde dir die Diagnose MS vermittelt?
Nach einem Spiessrutenlauf wurde ich 2010 zum Neurologen überwiesen. Nach diversen Tests folgte die MRI-Untersuchung. Zu dieser Zeit fühlte sich meine rechte Seite, von Kopf bis Arm, gefühllos an. Die Vordiagnose lautete Hirntumor oder MS. Die endgültige Diagnose, inklusive Medikamente, erhielt ich im Frühsommer 2012.
Was war dein erster Gedanke nach der Diagnose MS?
Im ersten Moment war ich froh, dass ich nicht an einem Hirntumor erkrankt war. Aber nur im ersten. Der Gedanke, dass ich MS habe, hat mir enorme Angst gemacht.
Welche Symptome machen dir am meisten zu schaffen? Wo behindern dich die Symptome im Alltag, wie beeinflusst die MS deine Lebensqualität?
Grosse Einschränkungen habe ich zum Glück nicht, eher viele kleinere, wie zum Beispiel Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Gleichgewichtsprobleme, Probleme mit langem Stehen, Höhenangst, etc. Diese Beschwerden begleiten mich fast tagtäglich. Trotz allem habe ich mich letzten Sommer entschieden, ein SUP-Brett (Stand Up Paddle) zu kaufen, um mein Gleichgewicht zu trainieren. Dieser Sport macht nicht nur super Spass, sondern hat mein Gleichgewicht enorm verbessert. Ebenfalls habe ich meine Leidenschaft fürs Tanzen mit meinem Ehemann wieder neu entdeckt. Klar, gibt es Dinge, welche ich nicht mehr machen kann, aber ich lasse mir meine Lebensfreude nicht von meinem Klammeraffen (= MS) nehmen.
Hast du deine Diagnose kommuniziert? Wenn nein, warum nicht? Was waren Befürchtungen oder Gründe? Was würdest du anderen Menschen mit einer Neudiagnose heute empfehlen?
Ja, ich habe meine Familie informiert. Diese war auch ziemlich schockiert und teilweise konnten sie mit der Diagnose nicht umgehen. Irgendwie ja auch verständlich und trotzdem war die Situation für mich eher schwierig und verletzlich. Trotz allem würde ich dies heute wieder so machen. Eine Empfehlung für andere Menschen kann ich leider nicht abgeben, da jeder Mensch anders denkt und mit der Krankheit anders umgeht.
Kennst du vielleicht MS-Betroffene, die sich bewusst «nicht outen». Weisst du , warum sie das nicht tun? Wie könnte die MS-Gesellschaft diese Menschen unterstützen? Wie, die Schweizerinnen und Schweizer?
Ja, habe ich leider auch schon erlebt. Ich denke mir, dass dies mit Angst und Stolz zu tun hat. Jeder Mensch ist ein Individuum für sich - und deshalb glaube ich, dass die Unterstützung für jeden Einzelnen anders ausfallen würde und müsste.
Was ist für dich tabu bei deiner MS? Gibt es Dinge, über die du nicht einmal mit deinen engsten Menschen sprechen möchtest? Gibt es umgekehrt Dinge, die dein Umfeld gar nicht wissen möchte?
Tabus kenne ich eigentlich keine. Wenn mein Umfeld Fragen hat, können sie diese jederzeit stellen.
Wie geht dein privates Umfeld, also Familie, Freunde, Partner, mit deiner Krankheit um? Hast du Kinder? Wie gehen sie damit um? Wie bekommst du/mit deinem Partner Kinder und Beruf unter einen Hut?
Nach dem Motto «aller Anfang ist schwer» hat heute mein Umfeld keine Berührungsängste mehr mit der Krankheit. Von meinem jetzigen Ehemann erhalte ich jegliche Unterstützung. Somit auch hier ein Motto: «Zusammen sind wir stark». Danke, mein lieber Schatz.
Wie ist die Situation an deiner Arbeitsstelle?
Ich habe in den letzten Jahren mein Pensum immer wieder erhöht. Mittlerweile arbeite ich 80%. Mit diesem Pensum habe ich meine Grenze erreicht, was für mich machbar ist. Ich merke auch, dass mein Körper in hektischen Zeiten etwas mehr Zeit braucht, um die Batterien wieder zu laden.
Hat sich aus deiner Sicht in den letzten Jahren etwas verändert in der Gesellschaft oder Politik gegenüber chronisch kranken Menschen? Was ist vielleicht besser oder schwieriger geworden?
Ich denke, dass die Akzeptanz der Gesellschaft gegenüber chronisch kranken Menschen immer noch zu wenig vorhanden ist.
Welches sind die grössten Vorurteile oder Irrtümer, mit denen du als MS-Betroffener konfrontiert wirst? Wie gehst du damit um, was erträgst du am wenigsten gut?
Die Krankheit ist nicht bei jedem ersichtlich und man steht oftmals als Simulant da. Viele Leute haben das Gefühl, dass man früher oder später im Rollstuhl sitzt. Solche Äusserungen treffen mich sehr hart.
Wo siehst du den Beitrag der Schweizerischen MS-Gesellschaft zur Enttabuisierung der MS oder zur Stärkung der Solidarität?
Ich glaube, dass dies relativ schwierig sein wird. Wer befasst sich schon mit einer Krankheit, welche in seinem Umfeld nicht vorhanden ist, respektive er selber nicht betroffen ist!
Wie entspannst du dich? Welchen Rat hast du für andere MS-Betroffene?
An warmen Tagen ganz klar auf dem See mit meinem SUP-Brett - Spass, Energie tanken und das Gleichgewicht trainieren. Das Tanzbein schwingen, nach meinen Möglichkeiten. Niemals sich selber aufgeben, jeden Tag geniessen und das Beste aus der Situation machen.
Was macht dir in Bezug auf deine MS Angst?
Dass ich eines Tages nicht mehr gehen könnte, der Verlust meiner allgemeinen Mobilität.
Was gibt dir in Bezug auf deine MS Hoffnung?
Die Stabilität meines «Klammeraffen».
Wenn Du morgen zum « Minister für Forschung gegen die MS» ernannt wirst, was sind deine ersten 3 Massnahmen?
Medikamente freigeben, welche schon lange in der Pipeline sind. Eine Corona-Impfung wird innert kürzester Zeit freigegeben – für ein MS-Medikament, welches im Ausland bereits auf dem Markt ist, dauert die Freigabe Wochen, Monate, wenn nicht sogar Jahre.
Welche positiven Gedanken verbindest du mit den Begriffen Forschung und MS?
Hoffnung auf ein heilendes Medikament.
Welche Gefahren siehst du für den Bereich Forschung und MS?
Zu hohe Ansprüche der Patienten könnten die Forschung unter Druck setzen.
Verfolgst du Informationen zu Entwicklungen in der Forschung? Aus welchen Quellen? An welchen Forschungsthemen bist du besonders interessiert?
Bewusst eigentlich nicht. Wenn in den Medien ein Artikel erscheint, lese ich diesen natürlich. Durch meinen Neurologen werde ich jährlich über Neuigkeiten informiert.
Welche Frage(n) wolltest du einem MS-Forscher schon immer mal ganz direkt stellen? Raus damit.
Gibt es jemals ein Medikament gegen den «Klammeraffen»???
Wo in deinem Alltag sollte die MS-Forschung ganz speziell positive Veränderungen ermöglichen?
Mehr Akzeptanz der Gesellschaft (Familie, Arbeitgeber, etc.).
Hattest du im Zusammenhang mit MS lustige und/oder traurige Erlebnisse?
Im Seilpark, mit meinen Kids, konnte ich mitten auf einem Hindernis (Anfängerparcours) weder vorwärts noch rückwärts gehen. Meine Höhenangst (beginnt 1 Meter über dem Boden) vermieste mir den Spass. Zum Glück befreite mich mein Sohn aus dieser misslichen Lage. Diese Situation war sicher lustig, aber zugleich auch traurig.
Welchen Satz über MS kannst du nicht mehr hören?
Oh, man sieht dir ja gar nichts an, oder, ist das nicht diese Krankheit wo man im Rollstuhl endet?
Wenn deine MS ein Tier wäre, welches und warum?
Ein Chamäleon - man muss sich der Krankheit und der Tagesform anpassen.
An was hängt dein Herz?
An meinem Mann, meinen Kids, meiner Familie.
Ein Satz für deine Liebsten?
Ich liebe Euch.
Ein Satz für deine «Feinde»?
Leben und leben lassen.
Dein Lebens-Motto?
Du kannst nicht wählen, wann und wie Du stirbst. Aber du kannst bestimmen, wie Du lebst!
Dein Lieblingsbuch? Lieblingsfilm? Lieblingsessen? Gegen den MS-Blues?
Tatsachenberichte, -bücher und Serien finde ich toll. Pasta in allen Variationen, mit einem feinen Glas Wein und guten Gesprächen mit meinen Liebsten. Mit diesen Kleinigkeiten, gehört der MS-Blues der Vergangenheit an.
Wenn du 3 Wünsche an die gute Fee frei hättest – für dich, die Welt, für wen und was auch immer: Welche wären das?
Ganz klar Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit. Für mich, meine Familie und meine Freunde.
Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft?
Ich erhalte sehr viele Informationen über die Krankheit, sowie Tipps.
Gesichter der MS 2021: Diese Serie ist anders. Nicht Dritte oder Unbeteiligte reden über MS und Menschen mit MS. Sondern MS-Betroffene selbst sprechen über ihr Leben mit einer unheilbaren Krankheit, ihre Hoffnungen, ihre Ängste. Wie die Krankheit sie fordert, aber auch, wie die MS sie vielleicht stärker gemacht hat. Wie eng gute und schlechte Erfahrungen beieinander liegen.
Immer gesucht: Neue Gesichter der MS
- Du liest und magst unsere Portrait-Serie «Gesichter der MS»?
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Dann schreib uns eine Mail mit dem Betreff «Gesichter der MS» an: redaktion@multiplesklerose.ch
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Liebe Grüsse, deine Redaktion
P.S. Du magst/kannst nicht mitmachen, kennst aber jemanden, der gerne dabei wäre? Dann erzähl’ es einfach weiter…