Seit einigen Jahren ist bekannt, dass bestimmte MS-Medikamente das Risiko erhöhen, an einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) – einer voranschreitenden Entzündung im zentralen Nervensystem – zu erkranken. Prof. Dr. med. Renaud Du Pasquier, Universitätsspital Lausanne, berichtete am «MS State of the Art Symposium» über neue Erkenntnisse im Zusammenhang mit dieser Erkrankung.
Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) wird durch das JC-Virus (JCV) ausgelöst. Dieses Virus ist weltweit verbreitet. Die meisten Menschen kommen damit bereits im Kindesalter in Kontakt, was jedoch im Allgemeinen zu keinen Symptomen führt. Das Virus kann sich aber in bestimmten Organen einnisten und dort über lange Zeit verharren. Wenn dann das Immunsystem nicht mehr voll funktionsfähig ist, kann das JCV wieder aktiv werden, ins zentrale Nervensystem wandern und eine PML auslösen. Bisher ging man davon aus, dass sich das Virus vor allem in den Nieren, in den Lymphknoten und auch im Knochenmark einnistet. Die von Professor Du Pasquier präsentierten Daten legen jedoch nahe, dass sich das JCV auch im Gehirn ansiedeln könnte, wo es auf die richtigen Bedingungen wartet, um PML auszulösen.
Medikamente beeinflussen das Immunsystem
In der Hälfte der Fälle einer PML ist eine HIV-Infektion der Grund dafür, dass das Immunsystem nicht mehr richtig funktioniert und das Virus aktiv werden kann. Aber auch eine Unterdrückung des Immunsystems durch bestimmte Medikamente, wie sie nach einer Organtransplantation oder zur Behandlung einer MS eingesetzt werden, können zur Reaktivierung des JCV führen. Fälle von PML wurden bisher unter den folgenden MS-Therapeutika beobachtet: Tysabri®, Gilenya® und Tecfidera®. Bislang wurde nur ein Fall von PML unter Ocrevus®-Monotherapie bei einem 78-jährigen Patienten berichtet.
Das PML-Risiko unter Tysabri® wurde intensiv erforscht. Unter dieser Substanz waren vor mehreren Jahren die ersten PML-Fälle bei MS-Betroffenen beobachtet worden, und auch heute wird unter dieser Behandlung die grösste Anzahl von PML beobachtet. Die gegen Ende der 2000er Jahre eingeführte und auch heute noch angewandte Strategie besteht darin, vor Beginn einer Therapie zu prüfen, ob die zu behandelnde Person bereits mit dem JCV Kontakt gehabt hatte oder nicht. Auf diese Art und Weise lässt sich der Nutzen der Therapie und ihre Risiken besser gegeneinander abwägen, und es kann nötigenfalls auf ein anderes Medikament ausgewichen werden. Wie Prof. Du Pasquier sagte, würden aktuelle Daten belegen, dass diese Vorgehensweise auch wirklich Erfolg zeigt. Forschungen ergaben zudem, dass eine Verlängerung des Dosierungsintervalls zwischen zwei Tysabri®-Anwendungen das Risiko für eine PML reduzieren kann, ohne die Wirksamkeit der Behandlung zu verändern.
Alter als wichtiger Risikofaktor
Wie Prof. Du Pasquier erklärte, könnten sehr viele unterschiedliche Mechanismen dafür verantwortlich sein, dass unter einigen MS-Medikamenten eine PML auftritt, unter anderen dagegen nicht. Auf diesem Gebiet wird denn auch intensiv geforscht. Die bisherigen Resultate dieser Forschungen weisen darauf hin, dass das Alter der behandelten Person eine wichtige Rolle spielen könnte. So wurde bei der genauen Analyse der bisherigen PML-Fälle immer wieder festgestellt, dass es sich bei den Betroffenen meist um etwas ältere Menschen handelte. Mehrere neuere Studien haben gezeigt, dass MS-Betroffene im Alter von über 45 Jahren ein höheres Risiko für eine PML im Vergleich zu jüngeren haben. Je nach eingesetztem Medikament scheint auch eine lange Behandlungsdauer das Risiko für eine PML zu erhöhen. In der Schweiz wird, wie Professor Du Pasquier erklärte, bald eine PML-Beobachtungsstudie gestartet. Diese Beobachtung soll es ermöglichen, noch mehr Wissen über die PML zu erlangen.
Fachreferat von Prof. Dr. Renaud Du Pasquier, Lausanne (auf Englisch)