«Wir geben Orientierung»

In der Sozialberatung der MS-Gesellschaft haben Themen rund um die Lebenssituation Platz. Wie eng Krankheit und Geld aneinandergekoppelt sind, davon erzählt die Sozialarbeiterin Judith Stierli in einem offenen Gespräch.

Durch den Hintereingang schlüpfen wir ins Gebäude der MS-Gesellschaft in Zürich, es ist früher Morgen, in den Büroräumen und Besprechungszimmern ist es still. Judith Stierli schiebt das Türschild dennoch auf Rot. Besetzt. Zehn Jahre ist sie bereits als Sozialberaterin bei der MS-Gesellschaft tätig, doch die Frage nach ihrem klassischen Berufsalltag wehrt sie ab. «Den gibt es nicht.» Ebenso wenig wie die typische Beratungssituation rund um die berufliche und soziale Situation.

Die Anliegen und Problemlagen sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Die Themen in der neutralen Beratung drehen sich um Arbeit, Diagnosemitteilung, IV-Anträge (z.B. Rente, Hilfsmittel, usw.), Wohnsituation oder Finanzen. Wer eine Diagnose wie MS erhält, dessen Welt gerät ins Wanken. Wo stehe ich? Was kann ich tun? «Wir geben Orientierung», Judith Stierli sagt es mit ruhiger Stimme. Manche der Ratsuchenden kommen mit konkreten Fragen an die Experten, suchen nach dem Durchblick im unübersichtlichen Dschungel der sozialversicherungsrechtlichen Bürokratie. Andere sind mit ihrer Situation komplett überfordert, werden von Existenzängsten geplagt. Eine chronische Krankheit erschüttert nicht nur das Fundament Gesundheit, sondern kann in finanzielle Strudel stürzen. Ein Teufelskreis.

Wenn die Krankheit Löcher in die Kasse reisst

Der Wasserkrug auf dem Tisch lässt den Hintergrund durchscheinen, Judith Stierli schenkt ein Glas ein, fasst das grosse Spektrum zusammen. «Je nach beruflicher und finanzieller Situation müssen Menschen bei fortgeschrittener MS finanzielle Einbussen hinnehmen. Andere fallen gänzlich durch die Maschen.» Zwar hat das Versicherungsland Schweiz bei Krankheit ein Auffangnetz. Trotzdem kann es einzelne hart treffen. Aus einer Krankheit resultiert die finanzielle Not. Wie das passieren kann, erfuhr Judith Stierli gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit. Sie lernt den MS-betroffenen Robert* in ihrer Beratung kennen, als er bereits eine IV-Rente von 50% bekommt. Die MS setzt ihm zu, seine Beine werden zunehmend schwächer. Der Arbeitsweg und die Wohnsituation im vierten Stockwerk ohne Lift bringen den dreifachen Familienvater an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Die Sozialberaterin veranlasst, dass er Stöcke zum Gehen erhält, und unterstützt ihn beim Antrag für eine ebenerdige Stadtwohnung. Diese Massnahmen bringen zunächst Entlastung. Spricht man über Krankheit, über staatliche finanzielle Unterstützung, Teil- oder ganze IV-Rente, geht es im Konkreten ums Finanzielle. Und das Thema Geld ist oft emotional aufgeladen. Es kann politisch, wirtschaftlich, sozialpolitisch oder philosophisch betrachtet werden. Je länger ich mit Judith Stierli darüber rede, desto breiter fächert sich das Thema auf. Für Betroffene sind IV-Entscheide aber schlicht und ergreifend Realität. Wie damals: Der Gesundheitszustand von Robert verschlechtert sich rapide, ihm wird eine ganze IV-Rente zugesprochen. Er ist im Niedriglohnsektor tätig, dementsprechend knapp fällt die Rente aus. Obwohl seine Frau 40% arbeitet, reicht das Geld nicht. Judith Stierli hilft bei der Beantragung von Ergänzungsleistungen. Bloss: Die Mühlen mahlen manchmal langsam, Wartezeiten über mehrere Monate sind normal. Rechnungen bleiben unbezahlt.

Frühzeitiges Handeln lohnt sich

Warum trifft es einige Menschen in der bekanntlich so reichen Schweiz so hart? «Das Versicherungssystem ist auf Vollzeiterwerbstätige ausgelegt», bringt es die Sozialarbeiterin auf den Punkt. Für Niedriglohnsektor ist das zu wenig. Pauschalisierungen lehnt sie ab, stellt aber ein paar Grundtendenzen fest. MS-Betroffene, die auf eigene Kosten ihr Arbeitspensum reduzieren, können in Engpässe geraten. Die Teilzeitarbeit kann zum Risikofaktor werden. Das betrifft ganz allgemein auch Mütter, die den vollen Wiedereinstieg in den Beruf auf später vertagen. Werden sie in dieser Zeitspanne krank, sind sie finanziell nicht gut abgesichert. In extremen Fällen greift die MS-Gesellschaft jemandem vorübergehend mit Geld unter die Arme. Robert konnte die gesamten Lebenshaltungskosten ohne ergänzende Leistung unmöglich tragen. Mit finanzieller Unterstützung deckte die MS-Gesellschaft gewisse Lücken in dieser Zeitspanne ab. Heute leben Robert und seine Familie bescheiden, aber sie kommen über die Runden.

Schweizweit an 18 Orten bietet die MS-Gesellschaft Sozialberatung an. Der frühzeitige Kontakt lohnt sich. Kurz nach der MS-Diagnose kam die Büroangestellte Sara* zu Judith Stierli in die Beratung. Sie fühlte sich erschöpft, merkte, dass ihr Energiehaushalt für ein Vollzeitpensum kaum mehr ausreichte. Durch die Sozialberatung überwand die junge Frau die Hemmschwelle zu handeln, liess sich nach Absprache mit dem Arzt für zwei Monate zu 40% krankschreiben. Eine Testzeit, die zeigte: Vollzeit geht nicht mehr. Judith Stierli begleitete die Bürofachfrau durch den Antragsprozess für eine Teil- IV-Rente, die Arbeitsstelle konnte Sara in kleinerem Teilzeitpensum behalten. «Das ist eine Geschichte, die ideal verlaufen ist.» Die Krankheit ist zwar nicht besiegt, aber die junge MS-Betroffene ist finanziell eingebettet. Über Geld zu sprechen, ist der zweite Schritt. Sich bei der Sozialberatung der MS-Gesellschaft zu melden, der erste.  

*Namen geändert