Umweltfaktoren und MS

Fachartikel

Neben einer unbestreitbaren genetischen Anfälligkeit spielen auch Umweltfaktoren als Auslöser für Multiple Sklerose (MS) eine Rolle. Zahlreiche epidemiologische Studien und Versuche mit Tiermodellen haben untersucht, wie sich Virusinfektionen, Vitamin D, Sonnenexposition, die Ernährungsweise und die Lebensgewohnheiten auf die Prävalenz von MS auswirken. Der folgende Artikel wirft einen kritischen Blick auf den Wissensstand zu diesem Thema.

Das Epstein-Barr-Virus (EBV)

Seit über einem Jahrhundert standen bereits zahlreiche Krankheitserreger unter Verdacht, deren Rolle als Auslöser der MS jedoch jedes Mal widerlegt wurde. Nicht so beim EBV. Es wurde nachgewiesen, dass fast 100% der erwachsenen MS-Betroffenen mit dem EBV infiziert sind, im Vergleich zu 96% der gesunden Kontrollpersonen gleichen Alters. Diese Differenz verstärkt sich noch bei an MS erkrankten Kindern. Die Gefahr, eine MS zu entwickeln, hängt vom Alter ab, in dem die Person zum ersten Mal mit dem EBV infiziert wurde. So hat eine Analyse mit 19’390 MS-Betroffenen und gesunden Kontrollpersonen gezeigt, dass das MS-Risiko 2.17 Mal höher ist, wenn die Primärinfektion mit EBV in der Adoleszenz stattfindet (wobei sie sich durch Pfeiffersches Drüsenfieber manifestiert), als wenn die Primärinfektion in der frühen Kindheit erfolgt. Die Adoleszenz erscheint demnach ein entscheidender Zeitpunkt für eine MS-relevante Fehlsteuerung des Immunsystems zu sein.

Die meisten Studien, die den Zusammenhang zwischen EBV und MS untersuchen, basieren auf Messungen der Antikörper im Serum. In aktuellen Studien, von denen einige im Labor des Universitätsspitals Lausanne (CHUV) durchgeführt wurden, konnte gezeigt werden, dass sich Untergruppen der weissen Blutkörperchen und der Rückenmarksflüssigkeit (entnommen durch Lumbalpunktion) bei Betroffenen mit beginnender MS anormal reaktiv auf EBV zeigen. Dies lässt darauf schliessen, dass der Virus beim Auftreten der Krankheit eine Rolle spielen könnte. Die Mechanismen, durch die der EBV zum Auftreten einer MS beiträgt, sind jedoch weiterhin ein Rätsel. Es kann demnach zum jetzigen Zeitpunkt ein Zusammenhang zwischen EBV und MS bestätigt werden, es bleibt jedoch noch festzustellen, ob EBV als Auslöser agiert oder nur eine Begleiterscheinung ist.

Vitamin D und Sonnenexposition

Die MS-Häufigkeit wird durch den Breitengrad beeinflusst. Je weiter man sich in Richtung Norden oder Süden vom Äquator entfernt, desto häufiger tritt MS auf, was darauf hindeutet, dass die Sonnenexposition bei der MS-Prävention eine wichti ge Rolle spielt. So konnte eine schwedische Analyse aufzeigen, dass bei Kindern und Jugendlichen, die im Sommer viel Zeit mit Aktivitäten im Freien verbrachten, ein geringeres MS-Risiko bestand. Die Vitamin-D-Synthese hängt zum grossen Teil von der Sonnenexposition ab, was die Forscher dazu veranlasst hat, die Rolle des Vitamins bei der Entstehung von MS zu untersuchen. In der Schweiz leiden 16% der Jugendlichen an einem Vitamin-D-Defizit1; die Zahl erreicht bei den erwachsenen Europäern sogar 50%.

Vitamin D wirkt auf verschiedenen Ebenen des Immunsystems und spielt vermutlich eine stabilisierende Rolle. Vitamin D wirkt sich bei Tieren dann positiv auf Ausbruch oder Schweregrad der Krankheit aus, wenn es vor oder unmittelbar nach der Geburt der Tiere verabreicht wird. Behandelt man jedoch erwachsene Tiere, lässt sich keinerlei Wirkung feststellen. Die Frage nach einem möglichen Nutzen von Vitamin D bei Erwachsenen, die bereits von MS betroffen sind, bleibt somit weiterhin offen. Im Rahmen verschiedener Studien wurde die Wirkung von Vitamin D auf das Auftreten der Schübe oder die MS-Aktivität mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) untersucht, ihre Ergebnisse waren jedoch nicht eindeutig. Sicher ist, dass der Vitamin-D-Spiegel von Menschen mit MS im Allgemeinen niedriger liegt als bei der gesunden Bevölkerung. So scheint eine Erhöhung des Vitamin-D-Spiegels1 um 10 nmol/l das Risiko einer pädiatrischen MS um 34% zu verringern. Die Zugabe von Vitamin D könnte daher folgerichtig bei an MS erkrankten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie zu Beginn der Erkrankung angeboten werden. Bei anderen MS-Betroffenen hilft die Messung des Vitamin-D-Spiegels, einen Vitaminmangel auszugleichen1. Die Zugabe von Vitamin D muss jedoch unter ärztlicher Aufsicht stattfinden, um eine Vitamin-D-Vergiftung zu vermeiden, die sich schädlich auf zahlreiche Organe, einschliesslich des zentralen Nervensystems, auswirken kann.

Ultraviolette Strahlung

Ultraviolette Strahlung (UV-Strahlung) aktiviert nicht nur die Produktion von Vitamin D, sondern scheint auch eine eigene Rolle zu spielen. So könnte eine unzureichende UV-Exposition in der Kindheit auch unabhängig vom Vitamin D ein Risikofaktor für eine MS-Erkrankung sein. UV-Strahlung zeigt eine regulierende Wirkung auf das Immunsystem des EAE-Tiermodells2 und stabilisiert dabei die Krankheit. Der Effekt besteht jedoch nur vorübergehend und geht ohne die UV-Strahlung wieder zurück.

Auch jahreszeitliche Schwankungen wirken sich auf die UVExposition aus. Verschiedene Studien haben den Geburtsmonat als MS-Risikofaktor untersucht, mit widersprüchlichen Ergebnissen. Eine kürzlich durchgeführte Analyse offenbarte zwar ein erhöhtes Risiko bei im Frühjahr geborenen und ein geringeres bei im Herbst geborenen Personen und führte diese Beobachtung auf die UV-Exposition und den Vitamin- D-Spiegel bei der Geburt zurück. Das Ergebnis wurde durch andere Forschungsgruppen jedoch nicht bestätigt.

Intestinale Mikrobiota

Die intestinale Besiedelung (Besiedelung des Darms durch Bakterien) beginnt mit der Geburt. Bereits im Alter von einem Jahr leben in unserem Darm mehrere Milliarden Mikroorganismen, insgesamt über 1’000 verschiedene Arten. Der Darm beherbergt demnach ein äusserst komplexes Ökosystem. Eine der Aufgaben dieses Mikrobiota genannten Mikrosystems ist es, uns vor einer Besiedlung durch schädliche Bakterien zu schützen, indem aktiv antimikrobielle Substanzen produziert werden. Aktuelle Studien lassen interessanterweise darauf schliessen, dass die Mikrobiota sich massgeblich auf den Reifungsprozess und die Funktionsweise unseres Gehirns auswirkt. Die Forscher konnten zeigen, dass es nicht möglich ist, bei Mäusen ohne jegliche antimikrobiellen Substanzen im Darm eineEAE2 zu induzieren. Werden die gleichen Mäuse jedoch durch bestimmte Bakterien besiedelt, manifestiert sich die EAE2. Auch wenn noch Unklarheit herrscht, besteht der Verdacht, dass die intestinale Mikrobiota an der Entstehung von Autoimmunerkrankungen, wie beispielsweise entzündliche Darmerkrankungen, Gelenkrheumatismus, Typ-1-Diabetes und vielleicht sogar MS, beteiligt ist.

Salzaufnahme, Übergewicht und Tabakkonsum

Die Menge des täglich aufgenommenen Salzes übersteigt unseren physiologischen Bedarf oft um ein Vielfaches. Eine hohe Salzaufnahme ist ein anerkannter Risikofaktor für Herz-Kreislauf- Erkrankungen. Vorversuche scheinen darauf hinzuweisen, dass eine erhöhte Aufnahme von Salz Entzündungen in der EAE2 begünstigen. Ob eine salzarme Ernährung die MS-Aktivität verringert, muss jedoch noch nachgewiesen werden.

Bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen scheint ein erhöhtes Risiko zu bestehen, später eine MS zu entwickeln. Als Mechanismus wird dabei der Rückgang des Vitamin-D-Spiegels angeführt. Dieses Phänomen geht einher mit Übergewicht und einer chronischen Entzündung, die durch Leptin ausgelöst wird, ein entzündungsförderndes Hormon, das von den Fettzellen produziert wird.

Und schliesslich ist Tabakkonsum nachweislich ein Risikofaktor für verschiedene Autoimmunerkrankungen, darunter auch MS. Jeder Zug Tabakrauch enthält etwa 1’017 Oxidantien sowie Karzinogene und Mutagene. Der Rauch verursacht eine Reizung der Atemwege, oxidativen Stress und eine Entzündungsreaktion in den Zellen der Lunge. Es ist möglich, dass daraufhin Immunzellen stimuliert werden und in das zentrale Nervensystem migrieren, wo sie zur MS beitragen. Tabakkonsum erhöht jedoch nicht nur das Risiko, eine MS zu entwickeln, sondern kann auch die Schübe verstärken. Das Rauchen aufzugeben ist demnach eine konkrete Massnahme, die MS-Betroffene umsetzen können.

Schlussfolgerung

Ein besseres Verständnis der Effekte und Umweltfaktoren auf MS wird es mit Sicherheit ermöglichen, Massnahmen oder unterstützende Behandlungen neben den aktuell angewandten immunmodulierenden Therapien zu entwickeln.

Text: PD Dr. Myriam Schluep, leitende Ärztin, Prof. Renaud Du Pasquier, Abteilungsleiter Abteilung für Neurologie, Departement für klinische Neurowissenschaften, CHUV, Lausanne 
1 Ein Serumspiegel des 25-(OH)-Vitamin D unter 50 nmol/l (20 ng/ml) bedeutet ein Vitamin-D-Defizit; ein Serumspiegel unter 75 nmol/l (30 ng/ml) bedeutet einen Vitamin-D-Mangel.
2 EAE steht für «Experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis», eine der menschlichen MS ähnlichen Erkrankung bei Labortieren.