Selbstbestimmtes Leben
FachartikelGerade bei Menschen mit einer chronischen Erkrankung, die oftmals mit Einschränkungen in der selbständigen Lebensführung verbunden ist, hebt sich der Begriff der Selbstbestimmung aus der rein philosophischen Betrachtungsweise hervor und gewinnt an alltagspraktischer Bedeutung. Tatsächlich können sich im Alltag einer MS-betroffenen Person die Grenzen zwischen dem Selbstbestimmungsrecht als einem zentralen Recht, das für alle mündigen Menschen gilt (unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, politischer Anschauung oder Religionszugehörigkeit) und den praktischen Umsetzungsmöglichkeiten zeigen. Zu den wichtigsten Fragen zählen hier das Mitentscheidungsrecht bei therapeutischen Eingriffen, der Erhalt der körperlichen und sozialen Autonomie sowie das Selbstbestimmungsrecht bei Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen.
Mitentscheidungen bei der Therapie
Die partnerschaftliche Einbeziehung von Patienten bei der Therapieauswahl wird im Konzept des sogenannten «Shared Decision Making» (SDM) thematisiert. Damit ist eine spezifische Form der Interaktion zwischen dem medizinischen Personal und den Patienten gemeint. Diese Interaktion basiert auf einer «geteilten Information» bei der Diagnose und einer gleichberechtigten Entscheidungsfindung bei der Therapie. Dies bedeutet, dass Ärzte und Patienten an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, beide Seiten sich gegenseitig informieren und eine hieraus resultierende Behandlungsentscheidung gemeinsam getragen und umgesetzt wird. Es hat sich gezeigt, dass bei MS-Betroffenen die Informationswünsche von der Verlaufsform abhängen: Für Betroffene mit einer schubförmigen MS sind andere Informationen wichtig als für jene mit einer chronisch-progredienten Verlaufsform. Zwar ist dieser eher partnerschaftliche Arzt-Patient- Ansatz wünschenswert, jedoch bedeutet dies zugleich, dass eine derartige Selbstbestimmung auch zu mehr Eigenverantwortung für die Folgen aus diesem Entscheidungsprozess führt. Der Vorteil des Ansatzes liegt darin, dass ein informierter Patient dem Arzt gegenüber differenzierte Fragen stellen und dessen Antworten eindeutiger interpretieren kann.
Erhalt der körperlichen und sozialen Autonomie
Die körperliche und soziale Eigenständigkeit ist ein zentrales Thema für MS-Betroffene. Denn diese Eigenständigkeit kann durch MS-typische Symptome eingeschränkt sein. Hinzu kommt, dass die Ungewissheit des Krankheitsverlaufes ein Gefühl der permanenten Bedrohung auslösen kann. Dies kann zu Angststörungen und depressiven Stimmungen führen, die ihrerseits die aktive Beteiligung am Sozialleben weiter einschränken. Neben einer umfassenden Information hinsichtlich möglicher Hilfsmittel zur Bewältigung des Alltagslebens erfordert ein selbstbestimmtes Leben auch den vertrauensvollen Umgang mit nahestehenden Menschen sowie die Verlässlichkeit von professionellen Hilfspersonen und Institutionen. Die krankheitsbedingte Einschränkung individueller und sozialer Aktivitäten wird unter dem Begriff der Teilhabe (Partizipation) diskutiert. Tatsächlich wird ein krankheitsbedingtes Symptom (z. B. eine Beinlähmung) erst dann zur eigentlichen Behinderung, wenn es die Teilhabe am Sozialleben beeinträchtigt. Spätestens jetzt wird deutlich, dass Selbstbestimmung auch bedeutet, für seine Bedürfnisse und Rechte mutig einzustehen und sie auch gegenüber Institutionen zu vertreten. Dies kann häufig mit langwierigen und oftmals zermürbenden Auseinandersetzungen mit Instanzen verbunden sein. Gerade in dieser Hinsicht leistet die MSGesellschaft mit ihrer sozialberaterischen Fachkompetenz einen wertvollen Beistand.
Selbstbestimmungsrecht auf Leidensminderung
Bei einer Erkrankung wie der MS kann es im Einzelfall zu Einschränkungen kommen, welche die Lebensqualität von Betroffenen derartig reduzieren, dass der vorzeitige Hinschied als Form der Leidensminderung gewünscht wird. Das Recht eines Menschen, sein eigenes Leben möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten, schliesst auch die Möglichkeit ein, bei bestimmten Lebensumständen, die sich deutlich verschlechtern und mit physischem sowie psychischem Leid verbunden sind, den Freitod in Erwägung zu ziehen. Dieser Themenkomplex wird in der öffentlichen Diskussion unter dem Oberbegriff der Sterbehilfe thematisiert. Diese findet nicht ausschliesslich bei Patienten statt, die unmittelbar vor dem Ausscheiden aus dem Leben stehen, sondern auch bei jenen, die einen schweren Krankheitsverlauf zu erwarten haben. Die Sterbehilfe ist darüber definiert, dass eine dritte Person Massnahmen durchführt, die im Rahmen der Leidensminderung den Tod herbeiführen. Es wird zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe unterschieden. Bei der direkten aktiven Sterbehilfe findet ein physischer Eingriff statt, beispielsweise in Form einer Medikamentenüberdosis. Bei der indirekten aktiven Sterbehilfe verstirbt der Patient ebenfalls infolge der Medikamentenapplikation; hierbei ist jedoch der Tod nur als Nebenwirkung der Medikation zu betrachten (z. B. bei Vergabe starker Opiate). Im Gegensatz zur aktiven wird bei der passiven Sterbehilfe keine dem Sterben direkt förderliche Tat vollzogen, sondern es wird eine lebensverlängernde Massnahme nicht mehr angewandt (z. B. das Einstellen der künstlichen Ernährung bei Patienten, die im Sterben liegen). Hier ist es die fehlende Nahrungsaufnahme, die dann auf natürlichem Weg zum Tod führt. Unter dem assistierten Suizid wird die Beihilfe zum Selbstmord verstanden. Während bei der Sterbehilfe eine dritte Person die lebensbeendende Aktion ausführt, ist sie in diesem Fall nur assistierend tätig: z. B. händigt sie einem Patienten ein todbringendes Medikament aus und bleibt bis zum Versterben, um anschliessend den Tod festzustellen. In der Schweiz ist der sogenannte assistierte Suizid gesetzlich geregelt.
Diskrete Beratungen
Die MS-Gesellschaft, die sich dem Recht aller Menschen nach einer freien Lebensgestaltung verpflichtet, fördert innerhalb der juristisch abgesteckten Grenzen die grösstmögliche Selbständigkeit auch bei derartigen Entscheidungen, da das Re auf ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben einschliesst. Dieses Thema wird von den Beraterinnen und Beratern der MS-Gesellschaft weltanschaulich neutral, unvoreingenommen und respektvoll behandelt. Im Einzelfall wird auch auf weitere Professionen (zum Beispiel Psychotherapeuten, Priester etc.) verwiesen. Hierbei wird stets auf die rechtlichen Bestimmungen (insbesondere StGB Art. 114 und Art. 115) aufmerksam gemacht. Problematisch ist bei diesen Entscheidungen, dass sie im Spannungsfeld zwischen freier Selbstbestimmung und geltendem Recht sowie Pflichten und Haltungen von anderen an diesem Prozess beteiligten Menschen stattfinden. Insofern darf diese Möglichkeit nur als «ultima ratio» und nicht mit Willkür oder gar als Freipass zu einer selbstbezogenen Denk- oder Handlungsweise verstanden werden, da die Freiheit des Einzelnen schliesslich da endet, wo die Freiheit des anderen Menschen beginnt. Zwar betrifft diese Problematik einen verhältnismässig kleinen Anteil der MS-Betroffenen, jedoch ist es umso wichtiger, dass derartige Gedanken bei Bedarf in einer vertrauensvollen Atmosphäre mit kompetenten Ansprechpartnern zur Sprache kommen. Auch für diese Themen finden Betroffene bei der MS-Gesellschaft Gehör und werden individuell, umsichtig und diskret beraten.
Schlussbemerkungen
Selbstbestimmung bezieht sich generell auf das Recht eines urteilsfähigen Menschen, über seine Lebensführung in Eigenverantwortung zu entscheiden. Im Falle einer chronischen Erkrankung berührt dies verschiedene Aspekte, die mit therapeutischen Entscheidungen, mit Einschränkungen der selbständigen Lebensführung bis hin zu Fragen über Leidensminderung mittels Selbsttötung verbunden sind. Bei den therapeutischen Entscheidungen ist es wünschenswert, dass Patienten zu gleichberechtigten Partnern werden. Dies bedeutet aber für die Betroffenen auch mehr Eigenverantwortung. Bei der Selbstbestimmung gilt es im Alltag nötigenfalls mit Hilfe Dritter seine Autonomiewünsche mit geeigneten Mitteln durchzusetzen. Wenn es um den eher selteneren Fall lebensbegrenzender Massnahmen geht, gilt es immer den Willen des Patienten nach maximaler Entscheidungsautonomie mit den geltenden Regeln in Übereinstimmung zu bringen.