Milena Moser schreibt in ihrem Blog über dieses Seminar
Die Wahrheit und andere Erfindungen.
Schreiben ist kein ordentlicher, überschaubarer, kontrollierter Prozess. Es ist eine Achterbahnfahrt. Von der ersten, verschwommenen Idee bis zum fertigen Buch – wenn es denn ein fertiges Buch wird: Ein unverstellter Blick über meine Schulter auf meinen Schreibtisch. In meinen Kopf.
Letztes Wochenende leitete ich einen Workshop im biographischen Schreiben, der von der MS-Gesellschaft organisiert worden war. Dieser Kontakt entstand vor ein paar Jahren, als ich zu meinem Roman «Montagsmenschen» interviewt wurde, in dem eine der Figuren an MS erkrankt. Ganz ehrlich, ein bisschen mulmig war mir schon, als das Magazin «Forte» ein Leseexemplar bestellte. Wie würden «echt» Betroffene die Geschichte einer komplett erfundenen Leidensgenossin aufnehmen?
Was hat Sie veranlasst, MS in Ihrem Buch zu thematisieren?
Um ehrlich zu sein, wusste ich lange Zeit nicht, was mit Nevada los ist. Mich interessierte zuerst die Ausgangslage: Jemand, der sein ganzes Leben auf den Körper gebaut hat, verliert die Kontrolle über denselben (das passiert uns ja allen früher oder später). Ich bin als Kind über eine enge Freundin meiner Mutter mit MS in Berührung gekommen, eine sehr offene, starke, aussergewöhnliche Frau, die mich manchmal direkt ansprach: Schaust du meinen Stock an? So hatte ich diese Erkrankung schon von Anfang an im Hinterkopf, aber erst einmal warf ich Nevada die Symptome an, die zu den jeweiligen Szenen passten. Dann legte ich diese Symptome einer ausgebildeten und zwei angehenden Aerzten vor. Sie übertrafen sich erst in extremen Diagnosen, bis eine von ihnen schliesslich sagte: Es kann nur MS sein.
Sie beschreiben die Symptome und Entwicklung einer MS-Erkrankung sehr eindrücklich und einfühlsam. Wie sind Sie beim Recherchieren vorgegangen?
Was für mich als Schriftstellerin besonders hilfreich ist, ist dass die Krankheit ganz unterschiedlich verlaufen kann. Die junge Ärztin hat mich auch eindrücklich über die Fatigue als eines der belastendsten Symptome aufgeklärt. Das ist nun etwas, das ich im kleinen Rahmen auch kenne und deshalb gut beschreiben konnte. Manches, was ich beschreibe, habe ich auch geträumt: dass die Beine so schwer sind, dass man sie nicht mehr anheben kann.
Wie hat sich Ihr Bezug zu der Krankheit MS bzw. zu den rund 10’000 Betroffenen in der Schweiz während des Schreibens Ihres Buches verändert?
Ehrlich gesagt, gar nicht – für mich sind die Grenzen zwischen gesund und krank, normal oder verrückt und so weiter ohnehin recht durchlässig, und immer schon gewesen. Jeder hat «etwas», manche können es nur besser verstecken. Das ist meine Erfahrung.
Ist es nicht lustig, wie oft ich «ehrlich» sage um die Erfindung zu erklären? Tatsächlich habe ich einfach «gewusst», wie Nevada sich fühlt, ich habe ihre Symptome gespürt, ich habe gesehen, wie sie sich in der Mitte der Treppe auf eine Stufe setzt. Ich habe einen Roman geschrieben, keine Reportage. Interessanterweise gelten diese Ansprüche – Es ist gut recherchiert, es ist genau so passiert, es ist wahr – heute immer mehr für Romane und immer weniger für den Journalismus. Mich persönlich interessiert das nicht. Wenn mich eine Geschichte packt, glaube ich sie. Dann lege ich das Buch nicht aus der Hand, um die Fakten im Internet zu überprüfen. Anders gesagt, Nevadas Erfahrung ist ebenso wahr wie die jeder einzelnen Betroffenen, die ich am Wochenende kennengelernt habe. Und so wird sie auch gelesen.
Und was unterschied nun den Workshop am letzten Wochenende von anderen Kursen?
Ich weiss es nicht. Vielleicht, dass wir etwas längere Pausen einlegten? Die allen Teilnehmern gemeinsame Diagnose war in der Begrüssungsrunde noch ein Thema, nachher nicht mehr. Ich selber hatte es noch vor der Mittagspause vergessen. Wir waren eine Gruppe von Schreibenden. Das ist die Gemeinsamkeit, die sich durchsetzt, nicht nur in diesem, in jedem meiner Kurse. Dieses Bewusstsein «Ich bin jemand der schreibt» verdrängt in kürzester Zeit alle Unterschiede und Bedenken. «Ich bin die einzige, die noch nichts veröffentlicht hat»- «Die anderen sind alle so jung» – «Die anderen sind alle so alt» – «Um Gotteswillen, hier sind ja nur Frauen!» Egal, Wir schreiben.
Milena Moser