Irene Gasser war auf Anhieb fasziniert: An einem Tanzkongress in Deutschland sah die ehemalige Balletttänzerin zum ersten Mal das Zusammenspiel zwischen Rollstuhlfahrenden und Gehenden. Zurück in der Schweiz informierte sie sich, lernte, studierte ein und startete im FORTE Magazin ein Inserat: Interessierte für Rollstuhltanz gesucht! Sieben Jahre ist das her.
Im Wagerenhof in Uster herrscht feierliche Wochenendruhe, bunte Blätter bedecken das taufrische Gras. Nur ein paar Stimmen und Lachen sind aus einem der Gebäude zu hören. «Wo bleiben die Aargauer? Auf die ist doch immer Verlass.» Pünktlich zum Eintanzen treffen die MS-betroffene Ivana Dillena und ihr Mann Dino denn auch ein und lassen den Alltag bei schaukelnder Country Musik für eine Weile hinter sich. «Rocking chair, rocking babies», tönt es durch die Lautsprecher, anmutig werden die Arme nach oben gestreckt, leichte Drehungen gemacht, rollend oder gehend, die Gesichter entspannen sich. An diesem Morgen haben sich fünf Zweierteams zusammengefunden. Dass die Gruppenkonstellation von Mal zu Mal variiert, gehört zum lockeren Grundkonzept der fröhlichen Regionalgruppe, die sich regelmässig zum Tanzen trifft.
«Es macht einfach Spass!» Romi im leuchtend roten Pullover ist als Fussgängerin dabei, sie tanzt heute mit Claudia. Da geht es klassisch weiter, die Balleröffnung mit Musik von Strauss transportiert Festlichkeit in den nüchternen Raum mit federndem Laminatboden. Irene instruiert mit tänzerischer Leichtigkeit und Humor. «In den Kreis, dann Fussgänger im Gegenuhrzeigersinn, Wiederholung, Palme.» Schliesslich: «Rolli-Fahrer mit Schuss nach vorne.» Beim zweiten Durchlauf gelingt die Formation. Hier wird sichtbar, dass Tanzen nicht Beinarbeit sein muss. Musikalität, Bewegung, Konzentration und viel Lebensfreude gehen ineinander über.
Das Miteinander ist wichtig
Von Tango über Englischen Walzer bis hin zu Cha-Cha-Cha und Merengue ist alles dabei. Heidi und ihr Partner Beat gehören von Anfang an dazu. «Das Tanzen fordert und tut Körper und Geist gut.» Die Muskeln sind danach viel entspannter, das haben Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen rückgemeldet. Wer sich nach genauer Abfolge bewegt, muss sich voll dem Moment hingeben. Ivana erzählt in einer kurzen Pause, dass sie nun auch das Gefühl in ihrer linken Hand verloren habe, ein weiterer schmerzlicher Rückschritt. Indem sie sich aufs Tanzen konzentriert, werden die Sorgen für eine Weile kleiner. «Früher haben Dino und ich viel getanzt, samstags gingen wir gerne ins Dancing. Dass wir jetzt wieder zusammen tanzen können, ist toll und hat uns viel Lebensqualität zurückgegeben.» Die beiden sind der MS-Gesellschaft sowie deren Spenderinnen und Spendern sehr dankbar.
Für den Cha-Cha-Cha wird die Choreografie nochmals durchexerziert. «Nach vorne, zurück, es folgt ein Handwechsel.» Nicht Zugkraft ist gefragt, wenn man die Person im Rollstuhl wendet, sondern die richtige Technik. Das Miteinander der Paare ist wichtig. Wie gerade bei Daniela, die ihre Mutter Dora zum Tanzen begleitet – fliessend gehen sie auseinander und kommen wieder zusammen, geschickt bewegt Dora mit einer Hand den Rollstuhl. Mit irischem Tanz endet der Morgen, nachdem die Gruppe zu Merengue «alles verbrötelt hat, was sie an Tanzenergie hat». Die Leichtigkeit transformiert sich in zufriedene Müdigkeit, den Rhythmus noch im Blut verabschiedet man sich herzlich voneinander.