Resilienz-Tipps für Menschen mit MS

Fachartikel
Prof. Dr. med. Gregor Hasler

Multiple Sklerose ist eine potentiell schwere neurologische Krankheit, die viel Unsicherheit mit sich bringt. Psychisch trotz und mit MS fit zu bleiben, ist eine Herausforderung. Diese Fähigkeiten nennt man Resilienz, d.h. Widerstandskraft. Im Folgenden beschreibt Prof. Dr. med. Gregor Hasler ein paar Tipps, welche die Resilienz stärken.

Der richtige Optimismus

Positive Gefühle wie Hoffnung, Freude, Heiterkeit, Stolz und Dankbarkeit sind für die Resilienz ein Segen. Sie führen zu einer Ausschüttung von Dopamin, welche die Neuroplastizität fördert, d.h. die Lernfähigkeit des Gehirns. Das ist bei MS besonders wichtig.

Praktischer Tipp
Erinnere dich am Abend an drei positive Dinge, die du am Tag erlebt hast. Tauche noch einmal ein in die für dich wertvollen Augenblicke und beschreibe die Gefühle, Sinneseindrücke und Gedanken, die sie bei dir ausgelöst haben.

Die richtige Anspannung

Der Körper hat zwei vegetative Nervensysteme: Der Sympathikus, auch Stressnerv genannt, spannt den Körper an und bereitet ihn auf Kampf und Flucht vor. Der Parasympathikus entspannt, fördert die Verdauung und die Regeneration der Gewebe. Bei körperlichem Training, bei sozialer und beruflicher Neuorientierung und beim Anpacken von neuen Behandlungsoptionen braucht es Anspannung, um den Stress auszuhalten. Es ist nicht ratsam, solchen Stress zu vermeiden und zu versuchen, immer entspannt zu sein. Die Fähigkeit zu Anspannung ist zentral für die Resilienz. Daueranspannung untergräbt aber die Resilienz und macht anfällig für psychische und körperliche Krankheiten. Um diese zu verhindern, brauchen wir «Entspannung»: Zeit für uns, Zeit zum Abschalten.

Praktischer Tipp
Versuche, dir den Tag als Yoga-Übung vorzustellen. Du wechselst von einer Stellung zur anderen. Und jede Stellung enthält eine kräftige und beherzte Anspannung, gefolgt von Entspannung.

Die richtige Belohnung

Belohnungen bieten einen wichtigen Schutz vor Stressfolgeschäden. Wer den ganzen Tag Dinge versucht zu tun, die er wegen seiner Krankheit nicht mehr kann und dauernd mit seinem Schicksal hadert, läuft Gefahr, verstimmt und depressiv zu werden. Gerade MS-Betroffene sollten daran denken, dass auch sie sich, wie alle anderen, belohnen müssen. Neurobiologisch muss man es sich so vorstellen: Mitten im Gehirn liegt das Hirnbelohnungssystem. Es ist der grosse Gegenspieler des Stresssystems, das heisst, die richtige Belohnung hat das Potential, das Stress-System zu dämpfen. Man denke nur an die Situation, in der ein Vater versucht, seine Tochter aus einem Gletscherspalt zu retten. Seine enorme Energie und Unermüdlichkeit beruht auf der grossen Belohnung, die in Aussicht steht, nämlich seine Tochter zu retten und mit ihr noch viele Jahre teilen zu können.

Praktischer Tipp
Frage dich bei jeder Belastung, was die entsprechende Belohnung ist (konkretes Beispiel nennen). Wähle Belastungen und Herausforderungen, die deinem gesundheitlichen Zustand entsprechen.

Die richtige Zeit

Spirituelle Führer predigen es seit Jahrtausenden: In jedem einzelnen Augenblick gibt es keine Probleme. Stress entsteht erst durch den Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft. Moderne Forschung bestätigt diese Beobachtung: Wir sind zu 40 bis 50 Prozent gedanklich abwesend. Je gestresster ein Mensch sich fühlt, desto abwesender ist er. Besonders abwesend sind Menschen, die Angst haben. Den Zustand, in dem wir ganz im Augenblick aufgelöst sind, nennt man Flow. Selbst in Konzentrationslagern gelang es einzelnen Gefangenen, mit Flow psychisch widerstandsfähig zu bleiben; dies gelang Mathematikern und Poeten besonders gut, die dank der Beschäftigung mit mathematischen Problemen und Gedichten die Todesgefahr vergassen. Es gibt keine allgemeinen Regeln, wie man in den Flow kommt. Situationen, in welchen es gewisse Regeln gibt, zum Beispiel beim Tanz und beim Spiel, fördern den Flow. Ferner sollten die Anforderungen fein auf die Leistungsfähigkeit abgestimmt sein. Das ist bei MS-Betroffenen besonders wichtig. Über- und Unterforderung stören den Flow.

Praktischer Tipp
Frag dich, wo Du zeitlich jetzt gerade bist? Versuche, dich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Setze Computer und Smartphones so ein, dass sie deinen Flow nicht stören.


«Psychologische Faktoren werden bei der MS oft unterschätzt. Resilienzförderung ist ein wichtiger Teil der Therapie»
Gregor Hasler studierte Medizin und arbeitet seit  dem 1. Januar 2019 als ordentlicher Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität  Freiburg (Schweiz). Seine wissenschaftlichen Arbeiten wurden mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet.

Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Universität Freiburg (Schweiz) gregor.hasler@unifr.ch