Neuropsychologische Aspekte der Multiplen Sklerose
FachartikelWährend bei der neurologischen Untersuchung bislang die körperlichen Beeinträchtigungen im Mittelpunkt standen, werden mittlerweile auch die psychologischen und kognitiven Defizite in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.
Die Neuropsychologie beschäftigt sich mit den Gehirnfunktionen, wie z.B. dem allgemeinen Denkvermögen, der Aufmerksamkeit, dem Gedächtnis, dem Sprachvermögen, den motorischen Fähigkeiten sowie dem affektiv-emotionalen Erleben. Mittels Tests, Fragebögen und Verhaltensproben werden die Hirnleistungen untersucht, die infolge von Unfällen oder Erkrankungen das Zentralnervensystem direkt oder indirekt beeinträchtigt sein können. Darüber hinaus bietet die Neuropsychologie spezielle Therapien für die Behandlung dieser Beeinträchtigungen an.
Neuropsychologische Diagnostik bei MS
Ziel einer klinisch-neuropsychologisch orientierten Diagnostik ist die Erfassung von Störungen verschiedener kognitiver Leistungskomponenten, insbesondere der Aufmerksamkeit, des Sprachgedächtnisses, der kognitiven Flexibilität und der Problemlösefähigkeit sowie deren Auswirkungen auf den Alltag und auf das Wohlbefinden der MS-Betroffenen. In der klinischen Praxis wird die kognitive Leistungsfähigkeit mittels standardisierter neuropsychologischer Testverfahren erfasst. Darüber hinaus werden, zur Einschätzung der emotionalen Befindlichkeit und weiteren psychischen Beeinträchtigungen, auch standardisierte Fragebögen und strukturierte Interviews eingesetzt. Häufig spricht man von einem «kognitiven Kerndefizit» bei MS. Damit ist gemeint, dass es im Verlauf der Erkrankung bei vielen Betroffenen zu ähnlichen Beeinträchtigungen der Hirnleistungsfähigkeit kommt. Sehr häufig zeigt sich eine Reduktion der Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistung sowie der mentalen Flexibilität – das betrifft insbesondere das parallele Arbeiten («Multitasking») oder die Fähigkeit, ein Problem aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Diese Defizite kommen gemäss aktueller Studienlage bei 35-50 Prozent der MS-Betroffenen vor.
Wichtige Grundlage für erfolgreiche Therapie
Während man früher annahm, dass kognitive Störungen insbesondere in fortgeschrittenen Verläufen vorkommen, wurde inzwischen aufgezeigt, dass sich kognitive Störungen auch bei MS-Betroffenen in frühen Krankheitsstadien finden. Zwar sind diese Defizite selten so ausgeprägt, dass sie einen Betroffenen völlig unselbständig machen. Sie können jedoch ein Ausmass annehmen, das nicht mehr mit einer vollzeitigen Arbeitsfähigkeit vereinbar ist. Der Einfluss genannter Defizite auf berufliche und soziale Aspekte sowie deren Auswirkung auf die allgemeine Lebensqualität zeigt, dass neuropsychologische Defizite ernst genommen werden müssen und dass deren Erfassung einer spezialisierten Untersuchung bedarf. Die Ergebnisse dienen einerseits einer persönlichen Bestandsaufnahme, andererseits stellen sie die Grundlage für alle Folgebeobachtungen dar. Das heisst: Wenn eine Ausgangsleistung bestimmt wurde, lässt sich später viel besser abschätzen, ob vom Betroffenen wahrgenommene Veränderungen einer Intervention bedürfen. Ausserdem lässt sich auf dieser Grundlage spezifischer therapieren und schliesslich können die Befunde für versicherungsrechtliche Aspekte herangezogen werden (z.B. IV-relevante Stellungnahmen).
Probleme der Aufmerksamkeit und Konzentration
Eine intakte Aufmerksamkeits- und Konzentrationskapazität bildet die Grundlage für sämtliche Kognitionsleistungen. Aufmerksamkeit lässt sich in verschiedene Bereiche gliedern: selektive Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit, Aktiviertheit und Vigilanz (Wachsamkeit). Diese Bereiche können in unterschiedlichem Ausmass beeinträchtigt sein. Bei MS-Betroffenen kommen insbesondere Störungen im Bereich der komplexen Aufmerksamkeitsleistungen gehäuft vor, zum Beispiel beim kognitiven Tempo (wie schnell Informationen verarbeitet werden können) und der geteilten Aufmerksamkeit («Multitasking»).
Eingeschränkte Gedächtnisleistung
Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis werden von vielen Menschen mit MS beklagt. In Studien finden sich diese bei ca. 30 bis 50 Prozent der MS-Betroffenen und sie betreffen insbesondere die Arbeitsgedächtnisleistungen (die Fähigkeit, verschiedene Informationen parallel zu verarbeiten). Eine reduzierte Arbeitsgedächtniskapazität kommt beispielsweise in einer verminderten Lernleistung zum Ausdruck und hat in vielen Berufen eine hohe alltagspraktische Relevanz. Klinisch lässt sich die Lernleistung mit entsprechenden Lerntests erfassen, zum Beispiel, indem Patienten Wortlisten vorgelesen werden, an die sie sich erinnern müssen. Hierbei sollten sowohl verbale (z.B. Wortlisten merken) als auch non-verbale (z.B. Objekte oder Muster merken) Verfahren eingesetzt werden. Bei Patienten mit einem chronischen Krankheitsverlauf sind die Gedächtnisstörungen häufiger und deutlicher ausgeprägt.
Störung von Sprache und Intelligenz
Sprachstörungen sind bei MS-Betroffenen eher selten. Sie unterscheiden sich von Sprechstörungen, mit denen Probleme der Aussprache und der Stimme gemeint sind und die bei MS eher vorkommen. Im Einzelfall führt die relative Intaktheit sprachlicher Leistungen dazu, dass MS-Betroffene trotz vorhandener kognitiver Störungen im Gespräch oder gerade bei sprachlichen Tests insgesamt unauffällige Leistungen erbringen. So können tatsächlich vorhandene Defizite unerkannt bleiben. Vor diesem Hintergrund sollte bei der Durchführung von neuropsychologischen Tests bei MS-Betroffenen der Schwerpunkt auf einer Profildarstellung liegen. Das Augenmerk sollte bei der Beurteilung der Testergebnisse auf Differenzen zwischen verschiedenen Leistungsdimensionen liegen. Grundsätzlich zeigen Betroffene mit einem chronischen Verlauf eine allgemeine, homogene Reduktion über das gesamte Leistungsspektrum, während Patienten mit einem schubförmigen Verlauf grössere Leistungsvarianzen aufweisen. Da bereits das Ausgangsprofil der geistigen Leistungsfähigkeit Aussagen über deren Stabilität über die Zeit erlaubt, sind eingehende neuropsychologische Untersuchungen bereits zu einem frühen Zeitpunkt sinnvoll.
Kognitive Flexibilität
Neben Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen haben MS-Patienten häufig Defizite im Bereich des problemlösenden Denkens und der kognitiven Flexibilität und damit Schwierigkeiten bei abstrakten und komplexen Denkvorgängen. Klinisch wird dieser Bereich durch Testaufgaben wie Sortieraufgaben, Kategorisierungstests oder Bearbeitung komplexer Probleme erfasst, die den zielorientierten Einsatz und die Koordination der geistigen Ressourcen beim Problemlösen erfordern. Leider werden die Alltagsanforderungen bei solchen Verfahren nur unzureichend abgebildet, sodass es für praktische Belange Sinn macht, diese Tests durch systematisches Problemlösen am Alltagsbeispiel zu ergänzen.
Neuropsychologische Screening-Verfahren
Zwar kann aus fachlichen und personellen Gründen eine ausführliche neuropsychologische Untersuchung in der Regel nur in spezialisierten MS-Zentren erfolgen, dennoch können in jeder neurologischen Praxis spezifische, an MS-Patienten validierte Kurztests (sogenannte kognitive Screening-Verfahren) durchgeführt werden. Diese Kurztests können leicht von Ärzten, klinischen Neuropsychologen oder medizinischem Personal durchgeführt werden, umfassen zumeist nur eine Auswahl von neuropsychologischen Verfahren und überprüfen diejenigen Leistungsbereiche, die bei der MS am häufigsten defizitär sind.
Wozu dient also die neuropsychologische Untersuchung bei MS?
Kognitive Beeinträchtigungen beeinträchtigen die Lebensqualität und schränken in der Regel die Arbeitsfähigkeit ein. Mit Hilfe einer neuropsychologischen Untersuchung können diese Defizite in ihrem Umfang und ihrem Schweregrad eingeschätzt und die individuelle Leistungsfähigkeit damit bestimmt werden. Da kognitive Störungen bei einer Vielzahl von MS-Betroffenen auftreten und diese Beeinträchtigungen sowohl Auswirkungen auf die Beratungs- und Therapiemöglichkeiten als auch auf das Arbeits- und Berufsleben haben, sollte jeder MS-Betroffene eine neuropsychologische Untersuchung einfordern können. Inzwischen ist das Fachgebiet der Neuropsychologie gut etabliert und als Versicherungsleistung anerkannt.
Text: Prof. Dr. Pasquale Calabrese, Professor für Neurowissenschaften an der Universität Basel, Psychologische Beratung und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats MS-Gesellschaft
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