MS – Soziale Konsequenzen und Integration

Fachartikel
MS ? Soziale Konsequenzen und Integration

Durch Multiple Sklerose verursachte Einschränkungen haben Einfluss auf die sozialen Rahmenbedingungen von MS-Betroffenen und deren Angehörigen. Die Tendenz einer Stigmatisierung und Abschiebung verletzt nicht nur betroffene Menschen, sondern verkennt auch das enorme Potenzial, das mit einer aktiven Integration in soziale Strukturen verbunden ist.

In unterschiedlichen Phasen sind die sozialen Konsequenzen der Diagnose MS entsprechend den Möglichkeiten und Einschränkungen individuell verschieden. So führen oftmals bereits Einschränkungen der Gehfähigkeit zu einer von den Betroffenen sehr sensibel wahrgenommenen Stigmatisierung durch das soziale Umfeld. Betroffene sehen sich beispielsweise aufgrund des Gangbilds mit dem Verdacht des Alkoholkonsums, mit den Herausforderungen im Umgang mit Inkontinenz oder aufgrund der Auswirkungen von Fatigue mit Vorwürfen und Unterstellungen am Arbeitsplatz oder zuhause konfrontiert. Diese Einschränkungen korrespondieren mit zahlreichen alltäglichen, teilweise unüberwindbaren Hürden, die zuvor nicht wahrgenommen wurden. Treppen, Bordsteine oder Bahnsteige können für MS-Betroffene ein ebenso grosses Hindernis darstellen wie eng aufeinander abgestimmte Zugverbindungen, zugeparkte Behindertenparkplätze oder zu hohe Raumtemperaturen. Zugleich schaffen Unsicherheiten über den möglichen Krankheitsverlauf und die daraus resultierenden Zukunftsängste eine psychisch belastende Situation. Die direkten sozialen Konsequenzen wie Arbeitsplatzverlust und der Verlust finanzieller Eigenständigkeit sind daher auch nach der Diagnosestellung die häufigsten Themen in der Sozialberatung. Die Veränderungen in der Familienstruktur stellen die Beteiligten teilweise vor grosse Herausforderungen und führen zu Konflikten, die das engste soziale Gefüge betreffen. Im erweiterten sozialen Umfeld sehen sich Betroffene oftmals gezwungen, ihre Lebensgewohnheiten anzupassen.

Problematische Begrifflichkeit

Bereits der Begriff «Invalidenversicherung» zeigt das überkommene und falsche Bild von betroffenen Menschen auf: Eine systematische Einteilung in die Kategorie «invalid» und deren Gegenteil («valid») ist diskriminierend. Die grundsätzlich äusserst positive Tatsache, dass der Bund diejenigen Menschen unterstützt, die aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht in der Lage sind, sich finanziell vollständig selbst zu versorgen, wird durch die grundsätzliche Stigmatisierung konterkariert. Daher ist eine Änderung sowohl der Begrifflichkeit als auch in der Ausrichtung der Arbeitsweise im Sinne einer «Integrationsversicherung » sinnvoll. Gerade MS-Betroffene sind oft unfairen Diskriminierungen und Vorurteilen ausgesetzt. Dass ein MS Betroffener an einem Tag einige Meter ohne Rollstuhl unterwegs sein kann und dies am darauffolgenden anders ist, ist ebenso schwer zu vermitteln, wie es beispielsweise die Auswirkungen der Fatigue sind. Auch hierin liegt eine wichtige Aufgabe der MS-Gesellschaft: Die Aufklärung und Information der Öffentlichkeit.

Überdies haben zahlreiche Reformversuche und massive Eingriffe von Gerichten in die ärztlichen Kompetenzen nicht zu einer Verbesserung der Situation von Menschen beigetragen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Betroffene, die sich mit erheblichen gesundheitlichen und sozialen Einschränkungen aufgrund Multipler Sklerose konfrontiert sehen, können mithilfe ärztlicher Expertise in Zusammenarbeit mit Gesundheitsfachpersonen, Sozialarbeitenden und der Unterstützung durch die Angebote der MS-Gesellschaft entsprechend ihren Möglichkeiten in der Gesellschaft integriert bleiben oder wieder integriert werden. Die falsche Grundannahme, dass ausreichender sozialer und finanzieller Druck eine Verbesserung der Situation zur Folge hätte, führt zum Gegenteil: Nämlich zu einer Verlagerung der Kosten in die Sozialhilfe, was Betroffene unnötig schädigt und demütigt. Die negativen gesundheitlichen Auswirkungen dieser Vorgehensweise haben eher höhere statt niedrigere Kosten zur Folge.

Wie kann man die Integration MS-Betroffener fördern?

Die Beratungspraxis der MS-Gesellschaft zeigt, dass die Bemühungen um Integration chronisch erkrankter Mitmenschen bereits so früh wie möglich beginnen müssen. Die individuelle Situation der Betroffenen und Angehörigen sowie die Erhaltung der Selbstständigkeit und einer hohen Lebensqualität unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Verlaufsformen der MS erfordern in einem komplex regulierten Sozialsystem professionelle Begleitung. Gerade in ihrem Berufsumfeld fühlen sich viele Betroffene verunsichert. Oftmals reduzieren Betroffene ihr Arbeitspensum, weil sie hoffen, auf diese Weise den beruflichen Anforderungen gerecht werden zu können. Solche Entscheidungen können für viele Betroffene langfristig existenziell negative finanzielle Auswirkungen haben, falls diese Reduktion in den erforderlichen Fällen nicht mit einer entsprechenden Anmeldung bei der IV einhergeht.

Die positiven Auswirkungen professioneller sozialer Unterstützung auf den Gesundheitszustand von MS-Betroffenen – welche wiederum zu einer Kostenreduktion führen – sind unbestritten. Die Integration von MS-Betroffenen – im Sinne einer «Integrationsversicherung » – hat insbesondere in Zeiten eines allseits beklagten Fachkräftemangels einen betriebswirtschaftlichen Nutzen für die Unternehmen, die erfahrene und qualifizierte Mitarbeiter entsprechend ihren Möglichkeiten produktiv einsetzen. Für einige MS Betroffene bedeutet die Beibehaltung einer auf sie zugeschnittenen Arbeitsmöglichkeit die Aufrechterhaltung des wichtigen sozialen Arbeitsumfelds und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Anerkennung – und damit wiederum eine positive Auswirkung auf den Gesundheitszustand. Schliesslich ist die positive volkswirtschaftliche Bilanz für die Gesellschaft durch «Integration» statt «Invalidisierung» ein Beleg dafür, dass es sich für alle Seiten lohnt, nicht die vermeintlich einfachen Wege der Ausgrenzung und anschliessenden Minimierung der finanziellen Unterstützung zu gehen. Eine professionelle soziale Begleitung bei der Integration und beim Arbeitsplatzerhalt für MS-Betroffene hilft nicht nur, die Kosten durch MS-bedingte Arbeitsausfälle (36 % der gesamten durch MS entstehenden Gesamtkosten) zu reduzieren. Der finanzielle Nutzen für die Gesellschaft liegt im europäischen Mittel gar bei fast 350’000 Franken pro MS-Betroffenem (in einem Zeitraum von zehn Jahren bei einer durchschnittlichen Weiterbeschäftigung von 50 %).

Arbeitsplatzerhalt ist nur ein Aspekt

In der Praxis der sozialen Arbeit der MS-Gesellschaft können Betroffene im Rahmen des Case-Managements gemeinsam mit dem jeweiligen Arbeitgeber beruflich integriert bleiben. Auch wenn die Arbeitsplatzintegration für einige Menschen mit MS eine Verbesserung bedeutet, muss betont werden, dass diese Massnahmen nicht für die Mehrheit der Betroffenen geeignet und auch nicht der zentrale Faktor für Lebensqualität sind. Sehr viele MS-Betroffene reagieren mit deutlichen Verschlechterungen ihres Gesundheitszustands auf Stress und Druck, und auch hier ist eine Generalisierung kontraproduktiv. Nicht alle Betroffene und deren Arbeitgeber sind in ein erfolgreiches Case-Management einzubinden – so führen körperlich anstrengende Arbeiten im Allgemeinen zu früherer Verrentung: Während nicht-körperlich arbeitende Betroffene im Durchschnitt 12,8 Jahre nach der Diagnose verrentet wurden, war dies bei körperlich Tätigen nach elf Jahren der Fall. Die ärztliche Diagnose und Begleitung sind die validen Grundlagen für die weiteren Möglichkeiten.

Motivation und Integration: Zusammenarbeit gefordert

Die soziale Teilhabe und Integration von Menschen, die mit MS leben, kann durch eine gute Zusammenarbeit von Ärztinnen, Therapeuten und der MS-Gesellschaft wirksam unterstützt werden. Den Fokus nicht allein auf Leistung zu richten, sondern auf eine motivierende und positive Begleitung der Betroffenen und Angehörigen, ist gesellschaftliche Aufgabe und zugleich auch gesellschaftlicher Nutzen. Die Wirkung der sozialen Integration auf den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden MS-Betroffener ist eindrücklich belegt. Das Potenzial und der gesundheitliche Nutzen von Integration, Begleitung, Förderung und Forderung MS-Betroffener sind gross. Vier Massnahmenfelder können als Grundlage für eine erfolgreiche Integration und Verbesserung der Lebensqualität für MS-Betroffene definiert werden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Therapeutinnen, Pflegenden, Gesundheitsfachpersonen und der MS-Gesellschaft schafft eine hervorragende Möglichkeit, Betroffene in ein medizinisch wirksames und sozial unterstützendes Netzwerk einzubinden.

Text: Prof. Dr. Jürg Kesselring, Chefarzt Klinik für Neurologie und Neurorehabilitation, Valens und Dr. Christoph Lotter, Vizedirektor der Schweiz. MS-Gesellschaft und Vizepräsident der Europäischen MS Plattform (EMSP)