Möglicherweise geringere Schubhäufigkeit bei MS durch Melatonin

Fachartikel

Kürzlich haben Wissenschaftler festgestellt, dass Menschen mit Multipler Sklerose (MS) in den Monaten mit geringerer Sonneneinstrahlung weniger Schübe erleben.

Der menschliche Körper erkennt die Tageslänge und reagiert darauf, damit die innere Uhr immer an die jeweiligen Umgebungsbedingungen angepasst ist. Eins der Moleküle, die der Körper produziert, um beispielsweise die Schlafphasen zu regulieren, ist das Melatonin.1

Dunkelheit regt die Melatoninproduktion an, Helligkeit bremst sie. Auch die Jahreszeiten wirken sich ähnlich auf den Melatoninspiegel aus: Im Sommer, wenn die Tage länger sind, sinkt er, im Winter mit seinen kürzeren Tagen steigt er an. Menschen mit Schlafstörungen und Reisende, die an Jetlag leiden, können Melatonin einnehmen, um eine Schlafphase einzuleiten. 

Warum Melatonin bei MS von Bedeutung sein könnte

Um den Zusammenhang zwischen Melatonin und MS genauer zu untersuchen, bestimmten die Wissenschaftler den Melatoninspiegel von Menschen mit MS und stellten fest, dass dieser während der Monate mit den kürzeren Tagen signifikant anstieg. Anders ausgedrückt sind im Herbst und Winter erhöhte Melatoninkonzentrationen messbar, und in genau dieser Zeit treten auch weniger Schübe bei Menschen mit MS auf. Dieses spannende Ergebnis veranlasste die Forscher dazu, das Phänomen zu betrachten. Sie untersuchten dazu Mäuse, die eine MS-ähnliche Krankheit haben (experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis). Dabei stellten sie fest, dass Melatonin die klinischen Symptome der Mäuse verbesserte. Ausserdem konnten sie eine Änderung der Zahl der verschiedenen Klassen von Immunzellen bei den Mäusen beobachten.

Melatonin beeinflusst die Differenzierung humaner Immunzellen

Das Immunsystem produziert laufend verschiedene Arten von Zellen. Manche dieser Zellen setzen entzündungsfördernde Moleküle frei. Zur Steuerung dieser Reaktion werden andere Zellen gebraucht. Diese beiden Arten von Zellen müssen in einem ganz bestimmten Gleichgewicht stehen, damit der Körper gesund bleibt. Bei Menschen mit MS werden Gehirn und Rückenmark vom eigenen Immunsystem angegriffen. Dieser Angriff wird von einer starken Entzündungsreaktion begleitet, die wiederum zur Zerstörung von Nervenzellen führt und daher ein wesentlicher Faktor bei der Multiplen Sklerose darstellt.

Die Ergebnisse der Studien an den kranken Mäusen gaben wichtige Hinweise darauf, welche Zellen an der Wirkung von Melatonin auf den menschlichen Körper beteiligt sein könnten. In ihrer weiteren Forschung konzentrierten sich die Wissenschaftler daher auf diejenigen menschlichen Zellen, die den Mäusezellen entsprechen: nämlich auf die sogenannten Th17-Zellen und Tr1-Zellen. Man geht davon aus, dass die entzündungsfördernden Th17-Zellen an der schädlichen Entzündungsreaktion beteiligt sind, die bei MS zu beobachten ist.2

Die Tr1-Zellen dagegen sorgen normalerweise dafür, dass die Th17-Zellen dabei nicht ausser Kontrolle geraten. Nach der Gabe von Melatonin stellten die Forscher eine Zunahme der Zahl der Tr1-Zellen und eine Abnahme der Zahl der Th17-Zellen fest. Das deutet darauf hin, dass Melatonin sich auch auf die Symptome der MS auswirken kann, indem es in die Differenzierung der Immunzellen eingreift und so die Entzündungsreaktion dämpft.

Die Forschergruppe ging jetzt noch einen Schritt weiter und entdeckte dabei mehrere molekulare Schlüsselmechanismen, die dieses Phänomen steuern. Die von den Forschern veröffentlichten Ergebnisse weisen möglicherweise auf eine vielversprechende Methode hin, MS durch die Gabe von Melatonin zu behandeln. Melatonin ist jedoch noch an etlichen anderen Prozessen beteiligt, längst nicht nur an der Regulierung der Schlafphase. Derzeit weiss noch niemand, ob diese anderen Prozesse von einer Behandlung mit Melatonin beeinflusst würden. Ausserdem wurden die genannten Bestimmungen der Melatoninspiegel bei Menschen durchgeführt, die auf der Südhalbkugel der Erde leben.

Ob sich der Zusammenhang zwischen MS-Schubhäufigkeit und geringeren Melatoninspiegeln auch bei Menschen in anderen Breitengraden nachweisen lässt, ist noch unklar. Daher sind die beschriebenen Ergebnisse zwar vielversprechend, aber es ist noch viel Forschungsarbeit nötig, bevor Melatonin oder andere Moleküle tatsächlich zur MS-Behandlung eingesetzt werden können.

Dr. Lutz Achtnichts

Literatur

 

1 Farez, M.F., et al., Melatonin Contributes to the Seasonality of Multiple Sclerosis Relapses. Cell, 2015. 162(6): p. 1338-52.

2 Miossec, P., T. Korn, and V.K. Kuchroo, Interleukin-17 and type 17 helper T cells. N Engl J Med, 2009. 361(9): p. 888-98.