Matthias Leicht-Miranda: «Investitionen in ein inklusives Arbeitsumfeld zahlen sich aus.»

Im Laufe ihrer Ausbildung oder ihres Erwerbslebens sind viele MS-Betroffene mit den Fragen konfrontiert: Welche Rechte habe ich? Und wie viel Unterstützung darf ich einfordern? Matthias Leicht-Miranda, stv. Leiter des eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), gibt Antwort.

Herr Leicht-Miranda, welche Rechte haben MS-Betroffene, wenn sie merken, dass sie aufgrund ihrer Einschränkungen im Arbeitsalltag weniger leistungsfähig sind und Unterstützung benötigen?
Aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebenden (OR 328, Abs. 1) lässt sich ein Diskriminierungsschutz im Arbeitsverhältnis ableiten. Arbeitgebende dürfen also niemandem ausschliesslich aufgrund einer gesundheitlichen Diagnose kündigen und sind verpflichtet, Mitarbeitende mit Behinderung vor Diskriminierung am Arbeitsplatz zu schützen. Diese Verpflichtung juristisch durchzusetzen ist in der Schweiz allerdings schwierig. Daher ist eine Lösung im Gespräch wichtig, allenfalls mit Einbezug von externen Fachpersonen der beruflichen Reintegration.
Für die Unterstützung am Arbeitsplatz ist die Invalidenversicherung und zu Beginn der Leistungseinschränkung deren Instrument der Frühintervention wichtig. Sobald jemand merkt, dass Unterstützung notwendig wird, sollte die Person mit der IV Kontakt aufnehmen. Die IV-Stellen haben schon vor einem Rentenantrag Möglichkeiten zu intervenieren und Arbeitgebende bei Anpassungen zu unterstützen. Erst als letzte Möglichkeit wird ein Rentenantrag geprüft.

Auch junge Betroffene sind mit ähnlichen Fragen in der beruflichen Ausbildung oder im Studium konfrontiert. Auf welche Formen der Unterstützung dürfen sie zählen?
Auch Ausbildungsstätten sollen Anpassungen vornehmen, um Barrieren abzubauen. Dafür gibt es das Instrument des Nachteilsausgleichs. Die Rahmenbedingungen in Prüfungssituationen werden damit für betroffene Personen angepasst, indem sie mehr Zeit erhalten, Pausen einlegen oder die Prüfung in einem separaten Raum absolvieren dürfen.
Speziell mit MS-Betroffenen, bei denen die Symptome sehr verschieden sind und oft schubförmig auftreten, braucht es eine konstante und offene Kommunikation seitens der Bildungsinstitutionen. Gerade hier gibt es in der Berufsbildung grossen Nachholbedarf. An jeder Universität findet sich mindestens eine Ansprechperson für Studierende mit Behinderung, vielerorts gibt es Fachstellen. An Berufsfachschulen fehlt oft schon eine zuständige Person. Wir sind deshalb Teil einer Dialoggruppe innerhalb der Strategie «Berufsbildung 2030», um den Zugang von Menschen mit Behinderung zur Berufsbildung zu erleichtern.

Laut einer Erhebung des Bundesamts für Statistik sind Menschen mit Einschränkungen weniger zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen und am Feierabend erschöpfter als Menschen ohne Einschränkungen. Was muss geschehen, damit sich das ändert?
Das Arbeitsumfeld muss inklusiver werden. Das beginnt mit der Unternehmensleitung, welche die Verpflichtung zur Gleichstellung von Mitarbeitenden mit Behinderungen eingehen muss, über die Arbeitsbedingungen mit flexiblen Arbeitszeiten und der Möglichkeit zu Home-Office bis hin zur Teamleiterin und den Arbeitskollegen, die sensibilisiert sein müssen.
Die positiven Auswirkungen kann man mit Daten belegen: Eine gesunde Führungskultur führt zu einer deutlichen Reduktion von Krankheitsausfällen bei Menschen mit gesundheitlichen Problemen, aber auch bei allen anderen Mitarbeitenden. Investitionen in ein inklusives Arbeitsumfeld zahlen sich aus.

Zum Schluss Ihre persönliche Einschätzung: Wie weit sind wir in der Schweiz in Sachen Gleichstellung von Menschen mit Einschränkungen?
Gleichstellung ist als Thema in der Schweiz angekommen, und man bewegt sich endlich weg von der Sicht auf die Behinderung als Einzelschicksal. Das Behindertengleichstellungsgesetz, das 2004 in Kraft trat, hat dafür die Grundlage gelegt. Mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention (BRK) der UNO 2014 gab es zudem noch einmal einen kräftigen Schub, der die Kantone mitriss und viel in Bewegung setzte.