Langzeit Prognose der MS im Kindes- und Jugendalter

ECTRIMS

Im nachfolgenden Beitrag fasst PD Dr. med. Sandra Bigi, Mitglied des Medizinisch-wissenschaftlichen Beirats der Schweiz. MS-Gesellschaft, Informationen zu MS im Kindes- und Jugendalter aus dem Fachkongress ECTRIMS 2021 zusammen.

Erste Erkenntnisse zur Langzeitprognose zeigen, dass die aktuelle Therapiestrategie – frühe Immuntherapie und Verwendung hocheffizienter Substanzen (sogenannte high-efficacy drugs) – die in den letzten 10 Jahren in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit MS Einzug gefunden hat, vielversprechende Erfolge zeigt.

MS im Kindes- und Jugendalter verläuft anders als im Erwachsenenalter und stellt alles andere als eine «milde» Verlaufsform dar.  Im Jahr 2007 rüttelte eine Forschungsarbeit die Ärzte wach: Permanente neurologische Einschränkungen sind bei unzureichend oder nicht behandelten Menschen mit MS-Beginn unter 18 Jahren bereits im jungen Erwachsenenalter, also Mitte Dreissig, zu erwarten – dies ungeachtet des exzellenten Erholungspotentials dieser jungen Menschen. Erkenntnisse aus dem Jahr 2010 zu frühen kognitiven Defiziten und 2014 zur Hirnatrophie haben die langfristige Prognose dieser vulnerablen Gruppe weiter getrübt.

Auf dem Boden dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse hat sich die internationale Arbeitsgemeinschaft für MS im Kindes- und Jugendalter (IPMSSG) klar für den Beginn einer Immuntherapie ab Diagnosestellung ausgesprochen. Die Therapieempfehlung basiert unter anderem auf überzeugenden Daten von Erwachsenen mit MS und der Annahme, dass eine frühe Kontrolle der entzündlichen Aktivität im sich noch entwickelnden Gehirn durch die Immuntherapie den Krankheitsprogress auch langfristig aufhalten kann. Dass nicht behandeln nicht gut kommt, wusste man mittlerweile – aber stimmt auch der Umkehrschluss? Kann der frühe Therapiebeginn die Langzeitprognose verbessern? Dieser wissenschaftliche Beweis stand lange Zeit aus.

Ein Forschungsteam hat in diesem Jahr die bisher grösste Arbeit präsentiert, die sich Daten von über 3000 Betroffenen mit MS-Beginn unter 18 Jahren in Italien angeschaut hat. Hierfür haben sie den Zeitpunkt der Diagnosestellung in Zeitepochen gegliedert (<1993, 1993-1999, 2000-2006 und 2007-2013). In diesen Zeitepochen wurden unter anderem Krankheitsaktivität bei Diagnosestellung, Therapiesubstanzen und das Erreichen des EDSS von 4 (EDSS: Skala für den Behinderungsgrad*) verglichen. Während sich die Krankheitsaktivität bei Diagnosestellung über die Jahre unverändert zeigt, wurden Kinder und Jugendliche mit MS-Beginn in den späteren Zeitepochen rascher behandelt. Ebenso kamen in den späteren Zeitepochen vermehrt hocheffiziente Immuntherapien wie beispielsweise Fingolimod oder Natalizumab zum Einsatz. Das Risiko, eine permanente neurologische Einschränkung (= EDSS 4) aufgrund der MS zu entwickeln, nahm in den letzten Zeitepochen um 50 – 70 % ab. Das Forscherteam kommt zum Schluss, dass die deutliche Verbesserung der Prognose mit grosser Wahrscheinlichkeit dem optimierten therapeutischen Management mit frühem Einsatz von teilweise hocheffizienten Immuntherapeutika zu verdanken ist.

Diese Erkenntnisse decken sich mit den Erfahrungen im Alltag und geben Anlass zur Hoffnung, dass in Zukunft auch das Fortschreiten der Hirnatrophie (Abnahme des Gehirnvolumens) und der alltagsrelevanten neurokognitiven Einschränkungen durch die Immuntherapie aufgehalten werden können.

Vorgestellt wurden diese Ergebnisse auf «ECTRIMS 2021». Der MS-Kongress fand vom 13. bis 15. Oktober 2021 digital statt.

Text: PD Dr. med. Sandra Bigi, Inselspital Bern, Mitglied des Medizinisch-Wissenschaftlichen Beirats der MS-Gesellschaft