Kinaesthetics für Pflegende Angehörige

Fachartikel

Kinaesthetics, die Wissenschaft der Bewegungswahrnehmung, wird immer wichtiger in der Betreuung und Pflege von MS-Betroffenen. Die MS-Gesellschaft bietet Angehörigen ein zweitägiges Seminar unter der Leitung eines renommierten Kinaesthetics-Trainers. Ein Besuch vor Ort. 

Ein Wochenende im November 2014, Zentrum Elisabeth, ein Seminarraum im Untergeschoss. Sechs Paare sind am Samstag früh in Walchwil eingetroffen, um am zweitägigen Seminar «Kinaesthetics für pflegende Angehörige» teilzunehmen. Was sie verbindet: Einer der beiden Partner hat MS – bei einem Paar sind beide Partner betroffen. Überzeugt vom hohen Nutzen bietet die MS-Gesellschaft verschiedene Kinaesthetics-Seminare an. Die erstmalige Ausschreibung eines Wochenendkurses für pflegende Angehörige stiess auf grosse Resonanz – das Seminar war innert kürzester Zeit ausgebucht.

Per Knie-Lift zu Boden

Der erste Seminartag stand unter dem Motto «Interaktion» und widmete sich dem gegenseitigen Kennenlernen, der Paarbeziehung sowie der Bedeutung der körperlichen Selbstwahrnehmung. Am zweiten Seminartag stand die funktionale Anatomie im Vordergrund: Gewichtsverlagerung erfahren und verstehen.

Die MS-Gesellschaft hat für dieses Seminar Erich Weidmann, einen erfahrenen Kinaesthetics-Trainer, verpflichtet. Er weist alle Teilnehmenden an, sich auf die Matten am Boden zu legen. Die Angehörigen lernen zunächst, wie sie ihren MS-betroffenen Nahestehenden am einfachsten auf den Boden helfen: Mit dem sogenann ten Knie-Lift. Dabei kniet der eine Partner mit einem Bein auf den Boden und lässt das andere angewinkelt aufgestellt. Die betroffene Person kann sich nun aus dem Rollstuhl aufs aufgestellte Knie verlagern und von dort ganz langsam und sachte auf den Boden gleiten. So haben es die zwölf Teilnehmenden getan und liegen nun alle in einem Kreis auf dem Rücken.

Jetzt geht es darum, ihre körperlichen Massen und Zwischenräume wahrzunehmen. Zu den insgesamt sieben Massen zählt Erich Weidmann Kopf, Brustkorb, Arme, Becken und die Beine. Und jeder Körper hat sechs Zwischenräume, die diese Massen auf Millionen von Arten bewegen: Halswirbelsäule, Schultern, Becken und Hüftgelenke. Die Art und Weise, wie man die Massen bewegt oder anderen dabei hilft, ist entscheidend. Deshalb ist es wichtig, seinen Körper bewusster wahrzunehmen.

Bewegung – gewusst wie

Erich Weidmann lässt die Teilnehmenden die eigene Körperwahrnehmung mit klaren Anweisungen erfahren: «Spürt den obersten Wirbel der Halswirbelsäule und bewegt euren Kopf langsam nach links und nach rechts». Erst wenn man selber das Bewusstsein für die Funktionsweise des eigenen Körpers erfahren hat, kann man Menschen mit Bewegungseinschränkungen optimal unterstützen. «Kinaesthetics ist keine Technik, sondern eine Möglichkeit, das Wunder der Bewegung zu erforschen und zu beschreiben. Mein Ziel ist, dass die Teilnehmenden die Qualität der eigenen Bewegung erfahren und verstehen. Erst wenn sie ihre Aufmerksamkeit bewusst auf ihre eigene Bewegung lenken, kann jeder das Gefühl dafür entwickeln, wie man den Partner am besten unterstützt, ohne sich dabei selbst körperlich zu überfordern.»

Das bestätigt auch die MS-betroffene Ruth, die mit ihrer Bekannten am Seminar teilnimmt. Sie ist beeindruckt von der Einfachheit der Tipps: «Der Knie-Lift hat mir sehr imponiert. Überhaupt ist es faszinierend, was ein Körper zu leisten vermag, wenn man ihn richtig einsetzt. Es zeigt sich einmal mehr: Bewegung ist das A und O.» Auch Miriam ist überzeugt, dass die gewonnenen Erkenntnisse ihrem MS-betroffenen Schatz Patrick und ihr selbst eine grosse Hilfe sind: «Die Strategie der Gewichtsverlagerung ist einleuchtend und sehr effizient. Patrick kann nun viel einfacher aufsitzen und benötigt weniger Kraftaufwand, weil er sich einfach weiter nach vorne beugt.» Michael und Sonja üben das Aufsitzen und das Hinlegen im Bett und wenden dabei das erlernte Wissen an. «Es ist erstaunlich, wie viel die bewusste Gewichtsverlagerung ausmacht», erklärt Michael.

Küssen erlaubt

«Nehmt jetzt den Kopf eurer Partner in die Hände und bewegt ihn ganz sanft. Erforscht die Bewegungen, findet heraus, welche Drehungen möglich sind und was das für die helfende Unterstützung bedeutet», weist Erich Weidmann die Teilnehmenden an. Konzentriert führen die Paare die Übung aus, als Miriam ihrem Schatz spontan einen Kuss auf die Lippen drückt. Erich Weidmann schmunzelt: «Auch das kann Kinaesthetics bewirken – ein solches Seminar hilft Paaren das Leben zu gestalten.»

Text: Erica Sauta Fotos: Ethan Oelman