FORTE Special: Wo steht die MS-Forschung?

Ein Höhepunkt des «MS State of the Art Symposium» war die Verleihung des ersten Forschungspreises der Schweiz. MS-Gesellschaft. Der mit 100’000 Franken dotierte Preis ehrt Forschungspersönlichkeiten, die auf dem Gebiet der MS bahnbrechende Erkenntnisse gewinnen konnten.

Das Preiskomitee war sich einig: Prof. Jens Kuhle und Prof. Tobias Derfuss sind mit ihren aussergewöhnlichen Beiträgen zur MS-Forschung und mit ihrem grossen Engagement für MS-Betroffene herausgestochen. Wir haben die beiden Neurologen, die am Universitätsspital Basel praktizieren und forschen, zum Gespräch gebeten.

Prof. Kuhle, Prof. Derfuss, herzlichen Glückwunsch zum Forschungspreis! Können Sie kurz zusammenfassen, was Ihre jeweils wichtigsten Forschungsschwerpunkte sind?
Prof. Jens Kuhle: Vielen herzlichen Dank für diesen Preis! Es ist eine grosse Ehre, diesen bei der ersten Ausschreibung verliehen zu bekommen. Meine Arbeitsgruppe koordiniert die Schweizerische MS Kohortenstudie (SMSC) seit nun zehn Jahren in acht grossen Spitälern der Schweiz. Im Rahmen der SMSC werden über 1’500 MS-Betroffene alle sechs oder zwölf Monate systematisch und standardisiert nachuntersucht und die Daten erfasst und kontrolliert. Diese systematische und langjährige Erfassung ist ein ganz wichtiges Instrument, das zum besseren Verständnis und zur effizienteren Behandlung der MS beitragen kann. Zum anderen beschäftigen wir uns mit sogenannten Biomarkern, also Veränderungen, die im Blut oder Hirnwasser gemessen werden. Sie können den Krankheitsverlauf oder das Ansprechen auf verschiedene Therapien besser messbar machen. Mit der Etablierung eines besonders sensitiven Messverfahrens für Abbauprodukte von Nerven im Blut, den sogenannten Neurofilamenten, konnten wir entscheidend zur Entwicklung dieses Biomarkers zur Anwendung in der Klinik beitragen.

Prof. Tobias Derfuss: Vielen Dank für diesen Preis auch von meiner Seite! Die Rolle von B-Zellen bei der Entstehung der MS und die Suche nach Autoantikörpern und Autoantigenen liegen in meinem Forschungsfokus. Wir wollen verstehen, wie die Multiple Sklerose entsteht: Was sind Trigger, welches Antigen löst die Autoimmunreaktionen aus? Wir haben einige interessante Ergebnisse, die zwar noch nicht die endgültige Lösung des Mysteriums MS sind, aber zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. In Langzeitstudien untersuchen wir ausserdem, wie sich das Immunsystem von MS-Betroffenen unter Therapie verändert und wie das wiederum Aussagen über das Behandlungsansprechen, aber auch über die Krankheitsentstehung liefern kann. Jens schaut sich primär die löslichen Biomarker im Nervenwasser oder im Blut an, also Eiweisse, die Immunzellen oder generell Zellen im Körper produzieren. Wir schauen uns die Zellen selber an. Da Jens sich praktisch um die Kohorte kümmert und uns die Proben zur Verfügung stellt, arbeiten wir eng zusammen. Wenn die Proben nicht da wären, die Daten nicht standardisiert aufbereitet würden, könnte ich nicht forschen.

Was motiviert Sie dazu, sich so engagiert der MSForschung zu widmen?
Prof. Derfuss: Bei mir hat die Faszination schon im Studium begonnen, als ich in einer Vorlesung zur Multiplen Sklerose sass. Der Professor referierte über die ungleiche Verteilung der Multiplen Sklerose in der Welt. Das fand ich so spannend wie mysteriös. Ich wollte herausfinden, was die Ursachen dahinter sind.

Prof. Kuhle: Einerseits beeindruckte mich der massive Fortschritt bei der Anzahl Medikamente, seitdem ich Anfang 2000 im Feld der MS zu arbeiten begann. Andererseits finde ich es fast etwas beschämend, wie hilflos wir heute bei der Entscheidung sind, wer wann mit welcher Therapie beginnen soll oder ob wir Medikamente sogar wieder absetzen können. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Krankheitsaktivität bei einzelnen Betroffenen von selbst derart zurückgeht, dass sie symptomfrei werden, wir das aber als Effekt einer Therapie fehlinterpretieren. Da vorwärts zu kommen, ist meine Motivation.

Die Forschung schreitet voran, dennoch ist die Ursache der MS nicht vollständig verstanden. Was macht es so schwer, Antworten zu finden?
Prof. Derfuss: Die Multiple Sklerose ist eine sehr heterogene Erkrankung, die wahrscheinlich verschiedene Auslöser bei den einzelnen Betroffenen und eine stark unterschiedliche Zusammensetzung aus Ursachen hat. Wir wissen etwa, dass die Genetik eine Rolle spielt. Wir wissen jedoch auch, dass Umweltfaktoren hinzukommen: Rauchen ist ein Risikofaktor für MS, ebenfalls erhöht eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) das Erkrankungsrisiko. Es gibt wohl schlicht nicht diese eine Ursache, die die Autoimmunreaktion auslöst, sondern am Ende sind es verschiedene.

Was denken Sie, wie lange wird es noch dauern, bis man eine Heilung für die MS findet?
Prof. Derfuss: Die eine Frage ist, ob man den Ausbruch der Krankheit verhindern kann. Das hängt etwa davon ab, ob eine EBV-Infektion ein notwendiger Trigger ist oder nicht. Wenn es das wäre, könnte man sich vorstellen, dass eine Impfung gegen EBV die Multiple Sklerose verhindern könnte. Um das allerdings gesichert herauszufinden und allenfalls einen Impfstoff zu entwickeln, braucht es noch jahrzehntelange Forschungsarbeit. Ist die Multiple Sklerose nun aber bereits ausgebrochen, kann man sich vorstellen, dass man Betroffene durch eine frühe, effiziente Behandlung tatsächlich auch heilen können wird. Wir kennen einige Betroffene aus der Praxis, bei denen nichts mehr passiert: Das MRI, die klinischen Symptome, der Biomarker sind über Jahre hinweg stabil. Es kann sein, dass einige von ihnen zu einem Zeitpunkt behandelt wurden, zu dem man durch eine effektive Immunintervention die Erkrankung früh stoppen konnte. Ich bin zuversichtlich, dass wir das bald herausfinden werden.

Prof. Kuhle: Ein dritter Fall bezieht sich auf Betroffene nach langjähriger, hocheffektiver Therapie. Wir sehen Personen, die über viele Jahre einen stabilen MS-Verlauf haben. Zurzeit sind wir aber nicht in der Lage, sicher zu beurteilen, ob das so bleibt und ob es mit vertretbarem Risiko möglich ist, eine laufende Behandlung zu ändern oder zu unterbrechen. Deshalb versuchen wir alle möglichen Auswirkungen der MS auf das Leben der Betroffenen nicht über die klinisch-neurologische Untersuchung, sondern auch durch die aktive Mitarbeit der Betroffenen mit Hilfe ihres Smartphones oder einer Smartwach zu erfassen. Dazu kommen Informationen aus MRI-Untersuchungen und Bestimmungen von Flüssigbiomarkern im Blut, die uns helfen, Auswirkungen zu erkennen möglichst bevor es zu Funktionsstörungen kommt. So kommen wir unserem Ziel einer den individuellen Bedürfnissen angepassten, «personalisierten » Behandlung näher.

Was möchten Sie MS-Betroffenen in fünf Jahren zu Ihrer Forschung gerne mitteilen können?
Prof. Kuhle: Ich möchte MS-Betroffenen immer zuverlässigere Informationen geben können, um auf einer soliden Grundlage gemeinsam Entscheidungen über die optimale Behandlung treffen zu können. Ich glaube, dass wir Medikamente miteinander kombinieren können und so die langsam schleichende Verschlechterung in einem höheren Prozentsatz als bisher stoppen können. Das ist ein sehr hoch gestecktes Ziel, aber in den nächsten Jahren sind Fortschritte realistisch.

Prof. Derfuss: Was meine eigene Forschung angeht, ist es sicher Autoantikörper und Autoantigene zu definieren und zu identifizieren, um so eine bessere Aufschlüsselung der MS-Betroffenen vornehmen zu können. Wir möchten Subgruppen von Betroffenen finden, anhand derer wir präzisere Prognosen und informierte Therapieentscheide machen können. Da sind wir auf einem sehr guten Weg.


FORTE Special

Dieser Artikel erschien im Magazin Forte 1/2023 mit Schwerpunktthema «Forschung». Die ganze Ausgabe des FORTE gibt es hier zum Lesen. Sie können sie aber auch per Post nach Hause bestellen.