FORTE Special: MS bei Kindern und Jugendlichen

MS bei Kindern und Jugendlichen verläuft schubförmig und zu einem grossen Teil aggressiv, was zu frühen kognitiven Einschränkungen und einem frühen Verlust von Hirnsubstanz führen kann. Die Forschung hat in den vergangenen Jahren entscheidende Fortschritte in der Behandlung der kindlichen MS gemacht – auch dank Betroffenen-Registern.

Erkenntnisse der letzten Jahre

Während schon seit längerem bekannt ist, dass MS im Kindes- und Jugendalter in über 40 Prozent der Fälle durch rasche Läsionszunahme und hohe Frequenz von Schüben geprägt ist, war hingegen nicht bekannt, welchen Einfluss der frühe Einsatz einer Immuntherapie auf das Fortschreiten der Erkrankung hat. In den letzten Jahren ist es einer Forschungsgruppe aus Italien gelungen, Licht ins Dunkel zu bringen – dank der Analyse eines über Jahrzehnte aufgebauten Registers von über 3’000 MS-Betroffenen mit Krankheitsbeginn im Kindesund Jugendalter.

Die Forschungsgruppe hat dazu zuerst die Studienteilnehmenden in vier Diagnose-Epochen eingeteilt: Diagnosestellung vor 1993, von 1993 bis 1999, von 2000 bis 2006 und von 2007 bis 2013. Danach hat sie sich angeschaut, welche Immuntherapien die Betroffenen wie lange angewendet haben und wie lange es pro Diagnose-Epoche gedauert hat, bis bleibende neurologische Schäden auftraten.

Die Forscherinnen und Forscher haben dabei festgestellt, dass der Einsatz hochwirksamer Immuntherapien wie Fingolimod (Gilenya®) oder Natalizumab (Tysabri®) im Verlauf der Diagnose-Epochen zugenommen hat. Gleichzeitig reduzierte sich das Risiko von bleibenden neurologischen Schäden um 50 bis 70 Prozent in den letzten beiden Diagnose- Epochen (2000 bis 2013).

Sie gehen davon aus, dass das reduzierte Risiko in direktem Zusammenhang mit dem frühen Einsatz hochwirksamer Immuntherapien steht. Da es sich um eine rückblickende Datenanalyse handelt, kann dieser Zusammenhang jedoch nicht wie bei einer vorausschauenden Medikamentenstudie bewiesen werden.

Die Resultate sind dennoch bahnbrechend und haben für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit MS eine grosse Bedeutung. Zum ersten Mal konnte der Zusammenhang zwischen einer früh eingesetzten, hochwirksamen Immuntherapie und der Verbesserung des Behandlungserfolgs beschrieben werden. Die Therapie der Kinder und Jugendlichen mit MS bleibt individuell angepasst, aber es bestärkt Kinderneurologinnen und Kinderneurologen darin, dass die frühe und wenn nötig auch aggressive Immuntherapie wichtig ist.

Register und Netzwerk für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz

Die italienische Studie zeigt auch die zentrale Bedeutung von Registern für die Erforschung seltener Krankheiten. In der Schweiz gibt es seit zwei Jahren ein Register für entzündliche Gehirnerkrankungen im Kindesalter, welches Kinder und Jugendliche mit MS einschliesst (www.swiss-ped-ibraind.ch).

Das Register konnte dank grosszügiger Unterstützung der Schweiz. MS-Gesellschaft aufgebaut werden und hat bereits mehr als 60 pädiatrische MSBetroffene aufgenommen. Es verfolgt verschiedene Ziele: Die Häufigkeit und Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit MS in der Schweiz verstehen, ihre Bedürfnisse aufnehmen und die Betreuung laufend verbessern.

Noch bevor die ersten Daten zusammengestellt werden können, haben die Mitglieder des Registers erkannt, dass ein regelmässiger Austausch und die Besprechung herausfordernder therapeutischer Situationen die individuelle Versorgung der einzelnen MS-Betroffenen positiv beeinflussen können. Aus diesem Grund haben sie ein schweizweites Netzwerk gegründet, das sich regelmässig trifft und dadurch die optimale Betreuung und Therapie der einzelnen Betroffenen sicherstellt.

Wenn aus Kindern und Jugendlichen Erwachsene mit MS werden

Eine gelungene Transition – so nennt man den schrittweisen Übergang von der «Kinderwelt» in die «Erwachsenenwelt» – ist für ein selbstbestimmtes, verantwortungsbewusstes Leben im Erwachsenenalter sehr wichtig. Es ist bekannt, dass dieser Schritt bei Menschen mit einer chronischen Erkrankung komplexer ist als bei gesunden Personen.

Die Transition findet zwischen 14 bis 18 Jahren statt und umfasst neben der MS-Therapie im engeren Sinne auch Aspekte der Berufswahl, der Sexualität und Familienplanung sowie der Eigenverantwortung. Der junge Mensch mit MS muss lernen, die Verantwortung für seine Krankheit zu übernehmen. Dazu gehört die regelmässige Einnahme von Medikamenten, aber auch das selbständige Wahrnehmen von Kontroll- und Sicherheitsuntersuchungen und das Managen solcher Termine. Gleichzeitig müssen die Eltern lernen, loszulassen und die Verantwortung abzugeben, was nicht immer einfach ist und oft zu Konflikten führt. Die Jugendlichen fühlen sich zu stark kontrolliert, die Eltern haben Sorge, dass die Dinge ohne Kontrolle aus dem Ruder laufen.

Wie bei anderen Themen im Ablöseprozess zwischen Eltern und Kind gilt es, frühzeitig und gemeinsam über die Veränderungen der Zukunft nachzudenken, Sorgen zu benennen, Abmachungen zu treffen und auch zu verstehen, dass diese Phase mit Unsicherheit verbunden und letztlich normal ist.

Die Forschung zur kindlichen MS in der Schweiz wurde und wird von der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft ermöglicht und unterstützt. Wir danken der Schweiz. MS-Gesellschaft für diese wertvolle Unterstützung. PD Dr. med. Sandra Bigi


FORTE Special

Dieser Artikel erschien im Magazin Forte 1/2023 mit Schwerpunktthema «Forschung». Die ganze Ausgabe des FORTE gibt es hier zum Lesen. Sie können sie aber auch per Post nach Hause bestellen.