FORTE Special: In guten und in schlechten Tagen

Etwa 600’000 Menschen in der Schweiz betreuen eine ihnen nahestehende Person. Der 70-jährige Fredi Levi ist einer von ihnen: Er pflegt seine von Multipler Sklerose betroffene Ehefrau Ursula. Heute ist er pensioniert, doch früher brachten ihn die Betreuungsaufgaben zu Hause und der fordernde Beruf an seine Grenzen – und darüber hinaus.

Ursula Levi war 24 Jahre alt, glücklich mit Fredi verheiratet, der zweite Sohn gerade zur Welt gekommen, als das junge Paar mit der Diagnose konfrontiert wurde. Fredi Levi erinnert sich: «Das war ein riesiger Schock für uns beide. Wir kannten die Multiple Sklerose nicht und waren stark verunsichert.» Doch die junge Familie hatte Glück im Unglück, zumindest vorerst: Die MS war schubförmig und Ursula erholte sich jeweils fast komplett von den Schüben. «Sie war rasch wieder voll einsatzfähig für die Familie und konnte sich um unsere Söhne kümmern. So durften sie ganz normal aufwachsen.»

Das Blatt wendet sich

Doch nachdem die Kinder aus dem Haus waren, nahmen die Einschränkungen von Ursula laufend zu. Fredi Levi war operativer Chef beim Zürcher Zivilschutz, hatte also eine Position mit viel Verantwortung inne. Er half seiner Frau am Morgen beim Waschen, ging dann zur Arbeit und kümmerte sich am Abend und an den Wochenenden um den Haushalt. Nur einmal die Woche kam eine Haushaltshilfe vorbei, um zu putzen. Wenn es seiner Frau nicht gutging, eilte er von der Arbeit nach Hause. Diese Mehrfachbelastung setzte Fredi Levi zu: «Mit 57 Jahren ging es plötzlich nicht mehr, ich lief in ein Burnout. Damals sagte ich mir: Jetzt ist fertig, ich kann nicht mehr arbeiten. » Er begab sich in psychiatrische Behandlung und liess sich schliesslich mit 58 Jahren vorzeitig pensionieren. Die Entscheidung fiel ihm schwer, doch es war die richtige: «Als die Belastung durch den Beruf wegfiel, war ich schnell wieder auf den Beinen.»

Hilfe annehmen und Kraft schöpfen

Heute, 12 Jahre später, wirkt Fredi Levi zufrieden. Vor einem Jahr ist das Paar von Zürich nach Embrach gezogen. «Wir sind so glücklich am neuen Ort. Wir können alles zu Fuss und mit dem Elektrorollstuhl erreichen und haben die Natur vor der Tür.» Noch immer kümmert er sich um den Haushalt, macht den Einkauf, bereitet jeden Tag drei Mahlzeiten zu – und ist fast rund um die Uhr für seine Frau da. Nur fast, denn heute weiss Fredi, dass auch er Pausen und Entlastung braucht. Jeden Morgen hilft die Spitex Ursula beim Aufstehen und Waschen. Am Mittwochnachmittag kommt zudem ein Besuchsdienst für zwei Stunden vorbei und ermöglicht Fredi etwas Freizeit. «Es tut mir extrem gut, dass ich diese Stunden nur für mich habe.» Ursula geht zudem regelmässig in die Gruppenaufenthalte der Schweiz. MS-Gesellschaft. Anderen pflegenden Angehörigen möchte Fredi Levi Mut machen: «Es ist wirklich nicht immer einfach. Deswegen ist es wichtig, dass man von den vielen Angeboten, die es gibt, auch wirklich profitiert – einfach immer wieder anklopfen!»

FORTE Special

Dieser Artikel erschien im Oktober 2022 im Magazin Forte 4/2022 mit Schwerpunktthema «Älter sein mit MS». Die ganze Ausgabe des FORTE gibt es hier zum Lesen. Sie können sie aber auch per Post nach Hause bestellen