FORTE Special: «Das Leben ist mit der MS nicht vorbei.»

Adrian Erzinger lebt seit fast 25 Jahren mit Multipler Sklerose. Der einstige leidenschaftliche Handballer kann heute nur noch einige Meter an Krücken gehen. Mit der Teilnahme an der Schweizerischen MS Kohortenstudie will er seinen ganz individuellen Beitrag dazu leisten, dass künftige Betroffene eine bessere Prognose haben als er.

Adrian Erzinger stützt seine Krücken auf dem Boden auf und schwingt beide Beine mit viel Elan nach vorn. Mit dieser sprungartigen Technik kommt er in den Gängen des Versicherungsbüros in Emmenbrücke (LU), wo er arbeitet, schnell voran. Das kleine Sitzungszimmer, in dem wir bei Kaffee und Gipfeli über sein Leben mit Multipler Sklerose sprechen, wurde eigens für ihn in der Nähe des Eingangs eingerichtet, damit er dort seine Kundinnen und Kunden empfangen kann. 

«Ich bin extrem froh, leide ich an keinen kognitiven MS-Symptomen wie etwa der Fatigue. Das erlaubt es mir, in meinem Beruf ganz normal zu arbeiten», beginnt Adrian Erzinger zu erzählen. Der 45-Jährige leidet vor allem an einer Muskelsteife in den Beinen, Spastik genannt, und Blasenstörungen. «Ich stehe voll im Leben, bin mit einer wunderbaren Frau verheiratet und habe zwei tolle Kinder. Es ist mir sehr wichtig, dass ich arbeiten gehen kann.»

Ein Meister der Bewältigungsstrategien

Hunderte Schritte erlauben ihm seine Beine kaum noch, doch der Luzerner hat verschiedene Strategien entwickelt, wie er sein Leben trotz Einschränkungen selbstbestimmt gestalten kann. Den Rollstuhl hat er immer im extra umgebauten Auto mit dabei. «So bin ich sehr mobil und kann mich ganz autonom bewegen.» Doch auch er weiss: «Jetzt geht es noch. Aber wie es kommen wird, weiss man nie.»

Wann immer möglich lässt er den Rollstuhl deshalb im Auto. «Meine Beine müssen aktiv bleiben. Ich trainiere in der Physiotherapie intensiv, um weiterhin Schritte gehen zu können. Im vergangenen Herbst schaffte ich dank diesem Training 314 Schritte – ein riesiger Erfolg für mich!»

Ein schicksalhaftes Jahr 1999

Begonnen hat alles vor fast 25 Jahren mit einem zunächst harmlos wirkenden Augenflackern. «Die Sehstörung ging wieder weg, doch nur drei Monate später hatte ich Empfindungsstörungen in der Hand. Plötzlich konnte ich den Handball im Training nicht mehr fangen.» Das waren die ersten beiden Schübe des damals 21-Jährigen. Die Diagnose war ziemlich klar, alle Zeichen deuteten auf eine schubförmige Multiple Sklerose hin. «Es war eine schwierige Zeit für mich. Doch meine Familie und Freunde waren immer für mich da, und wir haben viel unternommen. Die Ablenkung tat mir extrem gut.»

Wenige Monate nach der Mitteilung verliebte er sich. Als MS-Betroffener hatte er grosse Bedenken vor einer negativen Reaktion, wenn er seiner neuen Freundin von seiner lebensbestimmenden Erkrankung erzählen würde. «Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und ihr davon erzählt.» Und, wie war die Reaktion? «Sie wusste es schon längst», erzählt er lachend. «In Emmenbrücke hatte sich meine Diagnose schon herumgesprochen.»

Die damalige Freundin ist heute seine Frau – seine wichtigste Stütze. «Martina ist mein Leben. Ich bin zwar selbständig, aber ohne meine Frau ginge es nicht. Mein Anteil an der Hausarbeit ist halt beschränkt. Sie schmeisst den Laden.» 2008 kam die gemeinsame Tochter zur Welt, 2011 dann der Sohn. «Sie sind mir heute eine sehr wichtige Stütze und helfen mir meinen Alltag zu meistern. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar.»

Seit etwa sechs Jahren verläuft die Multiple Sklerose bei Adrian Erzinger nicht mehr schubartig, sondern schleichend. «Ich hatte wiederholt das Gefühl, dass ich MS-Schübe hätte. Ich ging immer wieder zum Arzt und wir behandelten mit Kortison. » Das Medikament vermindert die Entzündungsaktivität und kann so zu einem Rückgang der Schubsymptome führen. «Es war aber nur kurzzeitig besser», fährt er fort. «Die Symptome kehrten immer wieder zurück.»

Seither weiss er, dass sich die MS-Symptome kontinuierlich verschlimmern können – unaufhaltsam, aber mit Medikamenten zumindest verlangsamt und selten ganz gestoppt. «Es ist manchmal schwierig für mich zu verstehen, dass die Verlaufstherapie wirkt, obschon meine Symptome stärker werden. Ich weiss natürlich: Hätte ich keine Therapie, könnte es noch schlimmer sein und würde noch schneller gehen.»

Die eigene Verwundbarkeit vor Augen geführt

Die Verlaufstherapie hat allerdings auch zur Folge, dass sein Immunsystem geschwächt ist. «Ich war mir dessen lange nicht ganz bewusst. Ich habe mich immer gut vor Krankheiten geschützt und war nie krank.» Bis das Coronavirus in seine Familie kam. «Meine Frau und Kinder hatten es gut überstanden, aber bei mir wollten die Symptome einfach nicht weggehen.»

Lange lag er völlig erschöpft mit hohem Fieber zu Hause im Bett, bis er schliesslich Hilfe im Spital suchte und stationär aufgenommen wurde: «Das Fieber wurde zwar besser, doch dann hatte ich plötzlich Mühe mit dem Atmen.» Erzinger musste künstlich beatmet werden. Eines Nachts traten mehrere Ärztinnen und Ärzte an sein Bett auf der Covid-Station des Luzerner Kantonsspitals. «Sie teilten mir mit, dass sie sich bereithalten, um mich auf die Intensivstation zu verlegen.» Adrian Erzinger, der sonst immer ein Lächeln im Gesicht und einen Scherz auf den Lippen hat, wird nachdenklich. «Da musste ich schon leer schlucken.»

Wenige Stunden später hatte sich das Blatt bereits wieder gewendet: Als Risikopatient war er einer der ersten Empfänger der neu zugelassenen Antikörpertherapie gegen Covid-19. «Glücklicherweise verbesserte sich mein Zustand schnell, und ich musste nicht intensiv behandelt werden.» Doch die Infektion zehrte an seiner Substanz: «Ich habe sieben Kilo an Muskeln verloren und musste zwei Wochen in eine Reha, um wieder auf die Beine zu kommen.»

Forschen für die nächste Generation

Heute ist Adrian Erzinger vollständig von Covid- 19 genesen und schaut nach vorne. Seit zehn Jahren ist er einer von über 1'600 Teilnehmenden der Schweizerischen MS Kohortenstudie, einer Langzeituntersuchung, die von der Schweiz. MS-Gesellschaft finanziell mitunterstützt wird. Alle sechs Monate geht er ins Universitätsspital Basel, dem koordinierenden Zentrum der Kohortenstudie, und wird untersucht. So werden standardisiert und systematisch Daten zum Befinden, zur Krankheitsaktivität und zum Verlauf bei Betroffenen gesammelt, um die MS besser zu verstehen. «Zwar bringt mir das persönlich wohl nur vielleicht etwas, aber so kann ich etwas zur MS-Forschung beitragen und jüngeren oder künftigen Betroffenen helfen.»

Welche Hoffnung hat er an die Forschung? «Ganz ehrlich: Ich habe keine Erwartung, dann kann ich auch nicht enttäuscht werden.» Das meint er gar nicht negativ, sondern so gehe er mit seiner Krankheit um. «Wenn es plötzlich ein neues Medikament gibt, das meine MS stoppt, dann freue ich mich einfach. Bis dahin lebe ich im Hier und Jetzt.» Die Schweiz. MSGesellschaft kann dank der Unterstützung ihrer Spenderinnen und Spender MS-Forschungsprojekte finanzieren.

Obwohl sein Leben von der MS geprägt ist, überrascht Adrian Erzinger mit seiner beeindruckenden positiven Einstellung und seiner ansteckenden Lebensfreude. Woher nimmt er diese Kraft? «Mein grosses Glück ist meine starke Psyche. Ich habe einen konstanten Antrieb in mir drin, immer wieder aufzustehen. Ich kann zwar keinen Sport mehr machen, dafür aber sehr gut mit meiner Familie verreisen, eine Tour mit dem Adaptiv-Bike machen, mit Freunden essen gehen oder ein Eishockeyspiel schauen. Das Leben hat so viele schöne Facetten.» 


 

FORTE Special

Dieser Artikel erschien im Magazin Forte 1/2023 mit Schwerpunktthema «Forschung». Die ganze Ausgabe des FORTE gibt es hier zum Lesen. Sie können sie aber auch per Post nach Hause bestellen.