Fettstoffwechselmutationen liefern neue Behandlungsansätze

Fachartikel

Fettstoffwechselmutationen, die mit einer sehr geringen Häufigkeit von MS-Erkrankungen verbunden sind, könnten zur Entwicklung von Medikamenten führen.

Hintergrund

Bei der Multiplen Sklerose (MS) kommt es zu einer autoimmun vermittelten Schädigung des Myelins, das als lipidhaltige Schicht die Nervenzellen umgibt und isoliert. Neben den typischen Anzeichen einer MS-Erkrankung wie Entzündungen, Plaques (vernarbtes Nervengewebe) und einem Verlust der Myelinschicht hat man bei Erkrankten auch wesentliche Änderungen in der Lipidkonzentration und -zusammensetzung beobachtet.

Aufgrund dieser Beobachtungen hat sich die MS-Forschung in jüngster Zeit der Rolle der veränderten Fette (Lipiddysfunktion) und deren Auswirkung auf die Entzündungsreaktion zugewandt. Ein Grund für diese Interessensverlagerung waren Beobachtungen aus zwei genetisch deutlich abgegrenzten Bevölkerungsgruppen, den Hutterern und den Inuit, bei denen MS ungewöhnlich selten auftritt, was auf eine seltene Mutation zurückzuführen zu sein scheint. Diese Mutation betrifft ein einziges Enzym, das den Fettstoffwechsel beeinflusst.

Entsprechend wird gegenwärtig ein Arzneimittel namens Etomoxir für die Behandlung von MS getestet, welches spezifisch in den Fettstoffwechsel eingreift.

MS-resistente Bevölkerungsgruppen

Sowohl die Hutterer als auch die Inuit in Kanada haben ähnliche Mutationen, die einem Enzym (CPT1a) des Fettstoffwechsels seine Funktion nehmen. Dieses «Abschalten» des Enzyms führt dazu, dass weniger Lipide abgebaut werden. Rund 98% der Inuit im nördlichen Kanada und Grönland haben eine Mutation, die CPT1a betrifft. Interessanterweise wurde in einer Bevölkerungsgruppe von 500.000 Inuit bisher nur ein einziger Fall von MS gemeldet. Bei den Hutterern im westlichen Kanada sieht es ähnlich aus: Etwa 30 bis 60% von ihnen haben eine ähnliche CPT1a-Mutation, und nur 1 von 1.000 Personen in dieser Bevölkerungsgruppe erkrankt an MS. Zum Vergleich: In der Allgemeinbevölkerung in diesen Regionen tritt MS viel häufiger auf, nämlich bei etwa 1 von 350 Menschen. Die Beobachtung, dass Mutationen, die Enzyme des Fettstoffwechsels betreffen, mit einer sehr geringen Häufigkeit von MS-Erkrankungen verbunden sind, führten zu einem ganz neuen wissenschaftlichen Ansatz für das Verständnis von MS und für die Entwicklung von Medikamenten.

Die Bedeutung der Lipide

Lipide sind Moleküle, zu denen Fette und Sterole zählen, die wesentlich an der Regulierung verschiedener Funktionen im Körper beteiligt sind. Als Hauptbestandteil des Myelins sind Lipide auch für das Funktionieren der Myelinscheide mitverantwortlich. Die Lipidschicht selbst schützt die Proteine im Myelin gegen Schädigungen, beispielsweise durch autoimmune Angriffe. Die funktionale Halbwertszeit dieser Lipide, die an die Proteine im Myelin binden, beträgt nur drei Tage. Deshalb müssen die dem Protein aufgelagerten Lipide laufend ersetzt werden, damit sie es wirksam schützen können. Lipide sind aber nicht nur besonders wichtig für den Erhalt der Myelinscheide, sondern sie regulieren auch Zellen mit Entzündungs- und Steuerungsfunktionen, die wesentlich für Entzündungs- und Immunreaktionen sind. Ausserdem sind Lipide wichtig für die Signalübertragung vom Zelläusseren ins Zellinnere oder zwischen Zellen. Diese Mechanismen sind nötig, damit Nerven richtig arbeiten können.

Etomoxir blockiert den Lipidabbau

Etomoxir reduziert den Lipidabbau, indem es das Enzym CPT1a hemmt. Wird dieser Schritt des Lipidabbaus blockiert, stehen mehr Lipide zur Verfügung, die für die Nervenfunktion benötigt werden. Den Ergebnissen zufolge führt die Blockade des Lipidstoffwechsels zu einer Wiederherstellung der Myelinscheide, dem Schutz der Nervenzellen, einer verbesserten Signalübertragung, der Wiederherstellung der Mitochondrienfunktion und einem Rückgang der Entzündungsreaktion. Neuere Studien mit Nagetieren, die eine der MS ähnliche Erkrankungen haben, zeigten, dass insgesamt über 50% der Tiere nach zwei Wochen der Behandlung mit Etomoxir erkrankungsfrei waren.

Zusammenfassung

Aus Beobachtungen ist bekannt, dass Inuit und Hutterer über einen natürlichen Schutz vor MS zu verfügen scheinen. In beiden Bevölkerungsgruppen liegt eine Mutation im Gen für CPT1a vor, die dafür sorgt, dass dieses Enzym des Fettstoffwechsels nicht richtig funktioniert. Die Reduktion des Lipidabbaus führt möglicherweise bei Menschen mit dieser Mutation zu einer stabileren Myelinscheide. Ein gegenwärtig in klinischen Tests befindliches Arzneimittel, Etomoxir, blockiert ähnlich wie die Mutation der Inuit und Hutterer die Funktion von CPT1a, sodass der Lipidabbau gehemmt wird. Bei Mäusen mit einer der MS ähnlichen Erkrankung wurde das Fortschreiten der Krankheit durch Etomoxir begrenzt. Dieser neue Ansatz in der Erforschung der MS könnte den Weg zu neuen Behandlungsmöglichkeiten weisen. Daher wird die MS heute als Erkrankung angesehen, bei der sowohl Entzündungsprozesse als auch eine Lipiddysfunktion eine Rolle spielen.

Dr. Lutz Achtnichts

Literatur

Nieland, J.D., et al., CPT1a mutation leads the way for new medication for the treatment of multiple sclerosis. ECTRIMS Online Library. Nieland J. Oct 9, 2015; 116347; Abstract P1497.